: Hör-Erlebnis im Wartehäuschen
AKTUELLE MUSIK Immer gut für Überraschungen: Zum neunten Mal verdichtet das „blurred edges“-Festival mit über 40 Veranstaltungen zwei Wochen lang die weit verzweigte Szene zeitgenössischer experimenteller Musik
VON ROBERT MATTHIES
Das wäre doch ein schönes Motto für das Festival „blurred edges“, das ab Freitag zum neunten Mal für gut zwei Wochen zur Entdeckungsreise durch all die unterschiedlichen Positionen aktueller Musik in dieser Stadt einlädt: „Gute Musik ist, wenn man trotzdem bleibt“, soll Frieder Butzmann einmal gesagt haben.
Der Berliner Geräuschesammler, Musikforscher, Sprachverdreher und Instrumentenbauer muss es wissen. Was er seit den 1970ern in seinem „Studio für Komische Musik“ anrichtet, ist als Performance, Konzert, Hörspiel, Filmmusik- oder Oper nicht immer leicht verdaulich. Butzmann pfeift – ganz im Sinne der Berliner No-Wave-Dependance „Geniale Dilletanten“ (sic!), zu deren Mitgründern er in den 1980ern gehörte – auf technische Perfektion, Virtuosität und traditionelle Modelle von Unterhaltung. Die erste Oper auf Klingonisch etwa, die hat Butzmann komponiert.
Seine performativen Klanggebilde bastelt der 60-Jährige gern mit Instrumenten wie Küchenmixern, Schlauchtrompete und „Quitschophon“. Oder schlicht, indem er um einen Flügel herumsaust und irgendwann eine Platte in die Saiten wirft. Das Ergebnis ist eine eigenwillige Mischung aus nervigem Krach und dadaistischen Sprachverdrehungen, süßer Elektronik und seltsamen Geräuschen. Fast immer urkomisch – und immer ein Befreiungsschlag: Es ist die Eigenständigkeit, die Butzmann der Musik zurückgeben möchte – indem er auf Distanz geht.
Wie eindrucksvoll und nachhaltig ihm das gelingt, habe ich 2007 am eigenen Leib erfahren, beim zweiten „blurred edges“. Butzmann war damals mit seinem nonchalant „Verschiedene Gesänge und frappante Töne“ betitelten Programm in der Ottenser Christianskirche zu Gast. Überall im Kirchenschiff hatte er Lautsprecher aufgestellt, er sang, schlug Kochtopfdeckel aufeinander und spielte Salatschleudern wie Gebetsmühlen. Geradezu sakral wurde, was er da mit profanen Mitteln beschworen hat. Seitdem wird bei mir jede Kochsession zu Hause zur Jamsession. Und wenn ich eine Kirche betrete, rattert im Hinterkopf schon die Salatschleuder.
Diesmal ist Butzmann nicht zu Gast, aber es sind überraschende und beeindruckende Momente wie diese, die das „blurred edges“ immer wieder zum Abenteuer machen: Ganz plötzlich klingt Gewohntes unerhört, werden starre Kategorien aufgebrochen und Sinne öffnen sich für Neues. Jede Veranstaltung ist ein riskantes Experiment. Erstaunlich oft glückt es. Und wenn einmal doch nichts passiert: Auch das darf man hier positiv unter „Ergebnisoffenheit“ verbuchen.
Vor zehn Jahren hat der Verband für aktuelle Musik Hamburg (VAMH) das Festival initiiert, um die weitläufige Alltagskultur der lokalen Experimentalmusik-Szene zu verdichten und die ganze Vielfalt der aktuellen Musik zur Geltung zu bringen. Ziel war dabei nicht nur, die Szene selbst zu vernetzen, Abgrenzungen aufzulösen und Einkapselungen aufzubrechen. Sondern das so entstandene Corpus auch nach außen mit „unscharfen Rändern“ zu versehen und die verschiedenen Aktivitäten der unterschiedlichen ProtagonistInnen einem größeren Publikum bekannt zu machen. Und nicht zuletzt mit dem Avantgarde-Großereignis darauf hinzuweisen, dass die Förderung für aktuelle Musik fast ausnahmslos gestrichen worden war. Dagegen galt es, künstlerischen und kulturpolitischen Widerstand zu leisten.
Das schlug sich auch in der Organisation nieder: Bis heute ist „blurred edges“ basisdemokratisch und ohne künstlerische Leitung organisiert. Die zahlreichen unterschiedlichen Veranstalter – Musiker, Veranstaltungsräume oder -reihen – kuratieren ihr Festival selbst. Bewerbungen und Organisation koordinieren zwar fünf der umtriebigsten Protagonisten der lokalen Szene: Gregory Büttner, Heiner Metzger, Michael Maierhof, Alexander Schubert und Gunnar Lettow.
Der Anspruch ist aber, möglichst offen und vielfältig zu sein. Auf ein übergreifendes Festivalthema verzichtet „blurred edges“ bis heute. Denn der Reiz experimenteller Musik liege nun mal „im Unvorhersehbaren“, findet Büttner. „Diese Art der Organisationsstruktur, die die direkten Verbindungen der veranstaltenden Musiker nutzt, passt konzeptionell perfekt zu der dargebotenen, experimentellen Musik“, sagt er.
Mehr als 40 Veranstaltungen in 16 Tagen sind so in diesem Jahr zusammengekommen. 28 ganz unterschiedliche Orte von der Hochschule für Musik und Theater über die Kirche der Stille bis zum Wartehäuschen Döns im Museumshafen Oevelgönne bespielt „blurred edges“ mit Komponiertem, Improvisiertem, Sound-Art, Klanginstallationen und visueller Musik. Dazu kommen Ausstellungen, Vorträge, Vermittlungsprojekte und Performances im öffentlichen Raum.
■ Fr, 2. 5. bis Sa, 17. 5., diverse Orte, Infos und Programm: www.blurrededges.de
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