: Die Nachfahren Dschingis Khans
Ihr Arabisch hat einen polnischen Akzent, geben sie zu. Doch die wenigen Tataren im christlichen Polen sind stolze Muslime. Allerdings nimmt das Unverständnis zu – bis hin zu Feindseligkeiten
■ Die Tataren: Etwa 4.000 bis 5.000 Tataren leben seit rund 600 Jahren in Polen. Sie wohnen vor allem an der Grenze zu Weißrussland und Litauen. Das alte Siedlungsgebiet der Tataren umfasst auch das heutige Litauen und Weißrussland. Dort leben rund 10.000 Tataren.
■ Der Tatarenpfad: Er markiert in Podlachien das Hauptsiedlungsgebiet der polnischen Tataren nahe der weißrussischen Grenze. Er ist 57 km lang und führt durch zwölf Ortschaften; darunter sind die Tatarendörfer Kruszyniany und Bohoniki, die auch „Mekka und Medina“ für Polens Muslime genannt werden.
■ Die Muslime: Insgesamt leben in Polen etwa 30.000 Muslime, bei 38 Millionen Einwohnern ist das weniger als 1 Prozent. Zudem verteilen sich die Muslime auf sehr unterschiedliche Gruppen. Noch vor den Tataren bilden die 20.000 Studenten aus arabischen Ländern, Geschäftsleute und Diplomaten die größte Gruppe. Dazu werden auch anerkannte Flüchtlinge aus Tschetschenien und anderen Staaten mit muslimischer Bevölkerung gezählt. (gl)
AUS BIALYSTOK UND KRUSZYNIANY GABRIELE LESSER
Wenn in Ostpolens Metropole Bialystok der Tag anbricht, taucht aus dem Nebel ein Palast wie aus Tausendundeiner Nacht auf. An einem der Fenster scheint Scheherazade zu stehen, die schöne Märchenerzählerin aus dem alten Persien. Wesire und Mundschenke scheinen vorbeizuhuschen, doch dann ist es nicht Ali Baba, der mit einer kurzen Handbewegung die Fata Morgana vertreibt, sondern der tatarische Historiker Aleksander Miskiewicz. „Bialystok ist die Hauptstadt der polnischen Tataren“, doziert der 68-Jährige. „Wir sind die Nachkommen von Dschingis Khan. Der ‚Palast‘ sollte unser neues Kulturzentrum werden.“ Doch der Schein trügt, das Kulturzentrum der Tataren erhielt nie Dach und Türen. Er ist eine Bauruine.
Reiter aus der Steppe
Knapp 5.000 Tataren leben in Polen. Gerufen hatte sie vor sechs Jahrhunderten der polnisch-litauische Großfürst Witold. Die Reiter aus der Steppe sollten bei der Vertreibung der Deutschordensritter helfen. Später besiegten sie mit König Jan III. Sobieski die Türken vor Wien. Zum Lohn erhielten die meist zur tatarischen Aristokratie gehörenden Kämpfer Land in Ostpolen und Litauen, durften ihren Glauben behalten und christliche Frauen heiraten.
„Reich ist kaum einer von uns geworden“, stellt Miskiewicz belustigt fest. „Was nutzte das schönste Land, wenn man keine christlichen Bauern und Tagelöhner beschäftigen durfte?“ Aber das sei lange her, winkt er ab. Viele Tataren haben später das Land verkauft, den Dienst an der Waffe quittiert und zivile Berufe ergriffen.
Im Vergleich zu der Bauruine wirkt das alte Kulturzentrum winzig. Wie verloren steht das dunkelbraune Holzhaus zwischen riesigen Wohnsilos und Kirchen, katholischen wie orthodoxen. Nur ein Metallschild weist darauf hin, dass hier der „Orient Podlachiens“ beginnt. Wie in jeder Moschee bleiben Schuhe im Vorraum. In Strümpfen geht es in den Betsaal, der zwar klein, doch mit allem ausgestattet ist, was eine Moschee ausmacht. Der Boden ist mit Teppichen bedeckt, die Gebetsnische weist in Richtung Mekka, und vom Lehrstuhl mit dem goldenem Halbmond herab hält der Imam seine Predigten.
Im Nebenzimmer sitzen außer dem Historiker Aleksander Miskiewicz, Halima Szahidewicz, 77 Jahre alt und Chefin des Jugend-Tanzensembles Bunczuk, der 59 Jahre alte Jan Adamowicz, Vorsitzender des Tatarenverbandes in Polen, und der 44 Jahre alte Krzysztof Mucharski, der die Tataren im ostpolnischen Podlachien vertritt. Die Stimmung ist bedrückt. Denn ausgerechnet unter der liberal-konservativen Regierung von Donald Tusk hat sich die Lage der muslimischen Minderheit in Polen verschlechtert. 2013 verbot der Sejm, das polnische Parlament, die Schlachtung von Tieren nach Halal-Regeln und stellte den Tierschutz über das Recht auf freie Religionsausübung. Zum ersten Mal in der Geschichte der polnischen Tataren störten selbst ernannte „Tierschutz-Kommissare“ das Opferfest, das höchste islamische Fest. In Bialystok und Danzig wurden Brandanschläge auf das Islamische Kulturzentrum, die Moschee und Wohnungen von Muslimen verübt.
„Tatarentum im Herzen“
„Unter uns Jungen diskutieren wir ganz offen, ob es nicht besser wäre, Polen zu verlassen und unser Glück in den USA oder in Kanada zu suchen“, sagt Krzysztof Mucharski. Doch ihn bedrückt vor allem der drohende Verlust der kulturellen Identität. „Wir müssen mehr tun, um die Jugend zu halten“, fordert er. Halima Szahidewicz nickt. Die weißhaarige Dame gründete das Folkloreensemble auf ausdrücklichem Wunsch der Jugendlichen. „Die Kinder wollen das Tatarentum in ihrem Herzen spüren“, sagt sie etwas pathetisch. „Sie wollen tatarisch tanzen, singen und sprechen.“ Der Islam allein mache aus ihnen noch keine Tataren.
Doch auch mit der Folklore ist es nicht getan. „Die meisten von uns haben eine Doppelidentität. Wir sind Polen und Tataren“, erklärt Jan Adamowicz. „Über die Jahrhunderte haben wir unsere Sprache verloren, unsere Trachten und Traditionen. Das müssen wir wiederbeleben, sonst verlieren wir die Jugend.“
Es geht um Dinge wie den Spracherwerb, denn in den tatarischen Familien wird heute polnisch gesprochen. Und welches Tatarisch sollen sie lernen? Schließlich sind die Tataren über viele Länder verstreut und sprechen viele Dialekte. Weitaus mehr Tataren als in Polen leben im benachbarten Weißrussland und in Litauen, nicht zu vergessen die über 200.000 Krimtataren auf der Halbinsel Krim. „Wir haben uns für das Kasan-Tatarisch entschieden, die Hochsprache“, erläutert Halima Szahidewicz. Die Nachricht, dass die EU Gelder für ein Kulturzentrum im Tatarendorf Kruszyniany bereitstellen wird, beflügelt die Runde. „Jetzt muss nur noch der Mufti entscheiden, was aus unserer Bauruine werden soll“, grummelt der Historiker.
Am nächsten Morgen macht sich Dariusz Szada-Borzyszkowski auf den Weg in die Tatarendörfer an der weißrussischen Grenze. Seit Jahren produziert er einmal im Monat das Magazin „Tatarische Neuigkeiten“ für das Regionalfernsehen TVP Bialystok. Regelmäßig fährt er die zwölf Orte des Tatarenpfades ab, plaudert über Gott und die Welt, erfährt Klatsch und manche wichtige Nachricht.
Kruszyniany besteht aus einer einzigen langen Straße, an der solide wirkende Holzhäuser stehen. Mitten im Ort fällt ein grün gestrichenes Gotteshaus auf, das wegen seiner Zwiebeltürmchen wie eine orthodoxe Kirche wirkt. Doch das für den Islam typische Grün und die goldenen Halbmonde auf den Kuppelspitzen stören dieses Bild. Dzemil Gembicki, der aussieht, als würde er sich gleich in einen Reiter mit Pfeil und Bogen verwandeln und davongaloppieren, lacht. Der Computerspezialist kümmert sich hier um die kleine Holzmoschee und den Misar, den islamischen Waldfriedhof.
„Im ganzen Dorf wohnen heute nur noch drei tatarische Familien – die Bogdanowicz, Chaleckis und die Gembickis“, erzählt er. Die anderen knapp 30 Familien seien katholische Polen und orthodoxe Weißrussen. „Aber das Herz eines jeden polnischen Tataren schlägt in Kruszyniany – egal ob er in Danzig lebt, in Posen oder Warschau! Zu den großen Festen kommen alle hierher.“
DZEMIL GEMBICKI, POLNISCHER TATAR
Er schließt die Moschee auf. Dann öffnet er die leicht knarzende Tür, ein sonnendurchfluteter Raum in den Farben Rot, Braun und Grün öffnet sich. Die Wände sind mit arabischen Kalligrafien, Ornamenten und gestickten Bildern bedeckt. Die meisten Gläubigen der 85 Seelen zählenden Gemeinde wohnen in Bialystok. „Theoretisch sollen die Frauen abgetrennt von den Männern beten. Aber hier in der Gegend ist es oft so kalt, dass die Empore leer bleibt und die Frauen hinter den Männern beten.“ Gembicki lacht wieder. „Unser Arabisch hat auch einen ziemlich starken polnischen Akzent. Wir sind eben Europäer und keine Araber.“
Trübselige Gedanken
Auf dem Weg zur „Tatarischen Jurte“ amüsiert er sich über das Unwissen vieler, die bei den Worten „Tatar“ und „Muslim“ nur an Raubzüge und Terrorismus denken. Für einen Moment wird er ernst. „Die Perspektive, sich ein ganzes Leben lang erklären und verteidigen zu müssen, ist für die Jungen unter uns wenig attraktiv. Wer nicht sehr heimat- und familienverbunden ist, verlässt Polen.“
Dariusz Szada-Borzyszkowski ist heute ohne Kamera unterwegs. Er sitzt bereits in der der Taverne und lässt sich Pierekaczewnik schmecken – eine Blätterteigpastete mit Lammfleischfüllung. Dzenneta Bogdanowicz managt das Familienunternehmen „Tatarische Jurte“, das mit dem Sommerfest Sabantuj weit bekannt ist. Neben der rustikalen Taverne stehen Gästehäuser und eine echte Jurte. Pferde grasen.
Die Tatarin mit dem blonden Kurzhaarschopf plant schon das nächste große Fest, sein Motto: „Tataren und die Armee“. 2013 kamen knapp 6.000 Gäste. „Das hat uns dann doch ein bisschen überfordert. Die Leute müssen ja alle verpflegt und unterhalten werden.“
Im Hintergrund läuft auf einem Bildschirm ein Dokumentarfilm mit Prinz Charles. 2010 hatte der britische Thronfolger das Dorf besucht. Plötzlich unterbricht das Video für die Nachrichten. Alle horchen auf, als es heißt: „Die Koranschule in Bialystok kann gesprengt werden.“ Auf dem Bildschirm erscheint der „Palast aus Tausendundeiner Nacht“. Dann erfüllt die Stimme des Mufti Tomasz Miskiewicz den Raum: „1989 haben wir mit dem Bau begonnen, 1997 mussten wir einen Baustopp einlegen.“ Nach 17 Jahren müsse die Ruine aufgegeben werden. Dzenneta Bogdanowicz, Dzemil Gembicki und Dariusz Szada-Borzyszkowskisz sind für einen Moment sprachlos. Dann findet, Dariusz Szada-Borzyszkowskisz, der Mann vom Fernsehen, das erlösende Wort: „Eine kluge Entscheidung!“
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