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Derna, verlorene Stadt

ALLTAG Im Nordosten Libyens haben Polizei und Militär ganze Landstriche aufgegeben. Immer wieder kommt es zu Anschlägen. Der Sittenverfall im nachrevolutionären Chaos hilft den Milizen, als Moralwächter zu punkten

Die Dschihadisten sind wohl die einzigen in Nachkriegslibyen, die strategisch kühl vorgehen

AUS DERNA MIRCO KEILBERTH

„International Labraq Airport“ steht über der Einfahrt des Provinzflughafens von Shahat, einer altgriechischen Ruinenstadt an den Hängen der grünen Berge der Cyrenaika-Provinz. In der toskanaähnlichen Landschaft riecht es nach Pinien.

Ein überdimensionierter verkommener Rohbau erinnert an die Planung einer Design-Abfertigungshalle. „Das Geld war schneller in den Taschen der ausländischen Firmen und korrupten Beamten verschwunden, als sie bauen konnten“, erinnert sich Mohamed, ein junger Ingenieur, und streicht lachend mit der Hand über seinen Bart. Den hat er sich erst kürzlich wachsen lassen – zur Sicherheit, wie er sagt.

Die Männer auf dem Parkplatz warten nervös auf den verspäteten Libyan-Airlines-Flug aus Tripolis. Es wird Abend, vor Einbuch der Dunkelheit will man unbedingt zu Hause sein.

„Die Baukräne standen schon vor dem Sturz Gaddafis still“, sagt er, als die Maschine aufsetzt. „Wie bei allen Projekten in der Cyrenaika floss irgendwann kein Geld mehr aus Tripolis“, mischt sich ein Familienvater neben uns ein. Im Osten Libyens ist der Groll auf die 1.000 Kilometer entfernte Hauptstadt immer noch groß. Obwohl hier Libyens größten Ölquellen liegen, hat Tripolis wieder das Sagen.

Beängstigende Leere

Der Parkplatz des Flughafens lichtet sich schnell. „Man kann an den Gesichtern der Leute ablesen, in welche Stadt sie fahren“, sagt Mohamed. Links, vorbei am Zeustempel, liegt al-Baida, die weiße Stadt am Mittelmeer, wo Bürger und Polizei gemeinsam für Sicherheit sorgen. Die gute geteerte Landstraße rechts herunter führt nach Derna. „Zum Kalifat Derna, um genau zu sein“, sagt Mohamed ernst.

Kein Kontrollpunkt weit und breit, beängstigende Leere. Polizei und Armee haben den Landstrich schon vor zwei Jahren aufgegeben, kaum ein Tag vergeht ohne Anschläge auf Uniformierte. Schon in den 90ern hatte Derna den Ruf einer Islamistenhochburg. In der hohen Jugendarbeitslosigkeit und der geografisch isolierten Lage erkannten Osama bin Ladens Werber eine geeignete Brutstätte für Kämpfer, die sie in Moscheen für ihre Mission in Afghanistan und Irak anwarben.

Im Februar 2011 waren Derna und die Nachbarstädte Baida und Tobruk in wenigen Tagen von Gaddafis Regime befreit. Doch die Euphorie währte nur bis zum Fall von Tripolis. Während in Baida und Tobruk die festen Sozialstrukturen der Stämme für Ordnung sorgten, führte in Derna die Rivalität zwischen Bildungsbürgern, den zahlreichen zugezogenen Familien und die Rückkehr der unter Gaddafi eingesperrten Islamisten zu Spannungen.

Professor Marian, selbst gläubiger Muslim, bemerkte schnell, dass irgendetwas nicht stimmte. Seine beiden Söhne kämpften noch in Misurata, als immer mehr bärtige Männer aus Ägypten, Tunesien und Europa in der Moschee auftauchten. Die Grenze nach Ägypten war offen. Die Islamisten mit ihren jemenitischen Gewändern machten keine Anstalten, sich am Kampf gegen das Gaddafi-Regime zu beteiligen. Sie fielen durch beredtes Schweigen auf und übernahmen mit ihren brandneuen Jeeps aus Katar die Kontrolle über die Stadt.

„Die Bürger leisteten passiven Widerstand, aber hatten nicht die leiseste Chance“, berichtet der Universitätsdozent, während er in einer Kiste voller Bilder aus den 60er Jahren wühlt. Damals war Derna das intellektuelle Zentrum der Cyrenaika. „Jetzt werden die Uhren wohl um 1.400 Jahre zurückgedreht“, seufzt er und richtet den Knoten seiner Krawatte.

Täglicher Terror

Das letzte prominente Opfer der stets unerkannt bleibenden Täter war der ehemalige Generalstaatsanwalt Abdelaziz al-Hasadi. Der Revolutionär starb im Kugelhagel, als er seine Familie in Derna besuchte. Libysche Journalisten und Aktivisten trauen sich schon lange nicht mehr auf die Straße. Einige Organisatoren der Antimilizen-Demonstrationen vom November haben ihre Zivilcourage mit dem Leben bezahlt. Nach Angaben einer Untersuchungskommission des Nationalkongresses in Tripolis kamen letztes Jahr 643 Libyer bei Terrorakten ums Leben, ohne dass ein einziger Verdächtiger verhaftet wurde.

Die Männer im Straßencafé tauschen mit ernster Miene die neuesten Gerüchte aus. Mit jeweils einer Kugel im Genick und im Bauch wurde kürzlich ein Offizier ins Krankenhaus eingeliefert. In seiner Freizeit moderierte er die beliebte Talkshow „Fazaat Libya“, in der Anrufer über ihre alltäglichen Sorgen plaudern konnten. Live auf Sendung hatte Abdullah Zaidi verkündet, er lasse sich von den täglichen Drohungen nicht einschüchtern.

Auf den ersten Blick herrscht in Derna geschäftiges Treiben, Frauen sind allein mit dem Wagen unterwegs. Doch eine bleierne Schwere liegt in der Luft. In der Öffentlichkeit sind die Gespräche so dezent wie zu Gaddafis Zeiten.

Ein Mann im Nadelstreifenanzug deutet auf den ausgebrannten Friseurladen und das von einer Bombe zerstörte Restaurant gegenüber. Die Besitzer haben keine freiwillige Spende für Syrien bezahlt, zischt er ironisch schmunzelnd. „Wer unislamisch und nicht kooperativ ist, riskiert, zum Ziel zu werden“, sagt er später in seiner Wohnung.

„Ich werde Ihnen keine Details erzählen“, sagt sein Bekannter. Er war selbst lange bei der Miliz „17. Februar“ und sympathisierte mit den Zielen der Islamisten. „Weil in Tripolis immer noch viele Gaddafi-Anhänger das Sagen haben.“ Nach den ersten Morden an Polizisten und politischen Aktivisten hat er sich abgesetzt. „Das Vorbild dieser Leute ist der Irak. In Falludscha hat al-Qaida eine Zone für sich freigebombt, um von dort aus in der Hauptstadt zu operieren. Genau das wird hier auch passieren.“

Einer der bekannten Milizenführer ist Sufian bin Qumu, der Emir von Derna. Sechs Jahre hat er ohne Gerichtsverfahren in Guantánamo eingesessen, danach flog ihn die CIA nach Libyen, wo er gemeinsam mit anderen libyschen Dschihadisten drei Jahre im Abu-Salim-Gefängnis einsaß. Zu Beginn der Revolution ließ Gaddafi ihn frei.

Kommandeure wie er beherrschen Derna und Teile von Bengasi, wo sie mit den Spezialtruppen der Armee um die Kontrolle ringen. Die US-Regierung hat die Al-Qaida-nahen Veteranen wegen Mordes an dem amerikanischen Botschafter Chris Steven in Bengasi vor zwei Jahren zur Fahndung ausgesetzt. Die Islamisten beteuern, mit all den Anschlägen nichts zu tun zu haben: „Da haben Gaddafi-Anhänger die Hand im Spiel“, sagt einer am Telefon. Das Ziel der Dschihadisten ist ein Emirat von Mali bis Syrien – und sie sind wohl die Einzigen in Nachkriegslibyen, die strategisch kühl vorgehen. Milizen wie Ansar Scharia haben massenhaft Waffen und bedienen sich zugleich einer extrem konservativen Auslegung des Islam: Sie propagieren die Einführung der Scharia, verhindern demokratische Wahlen und wettern gegen die Verfassung. Die Trennung von Männern und Frauen im Alltag wird in der Uni nun mit einer Mauer durchgesetzt. Der Sittenverfall im nachrevolutionären Chaos hilft, als Sittenwächter zu punkten.

Frustrierte Jugend

Den Bedarf an Sicherheit erkannte der 29-jährige Youssef bin Tahir Ende Oktober als Chance und gründete die „Armee der Islamischen Staates“. Kostenloser Schutz für alle öffentlichen und privaten Gebäuden war sein Ziel. „Es ist unsere Pflicht als Muslime, Menschen zu schützen“, erklärt er. Aber der Kaufmann und Revolutionär aus Derna konnte die Bombenanschläge nicht stoppen. Mittlerweile nehmen Milizen wie „AIS“ Spenden von Kaufleuten für die rund 1.500 libyschen Kämpfer in Syrien an. „Es ist besser zu zahlen“, knurrt ein Ladenbesitzer vieldeutig, „egal wo das Geld landet.“

Ansar al-Scharia, die „Unterstützer des islamischen Rechts“, ist diskreter. Die Miliz hat allen Grund dazu. Das sonore Summen der Drohnen am Himmel ist eine klare Botschaft der US-Luftwaffe: Ein Militärschlag ist jederzeit möglich ist. Erst kürzlich explodierte ein geheimes Waffenlager am Stadtrand.

Die Milizen wissen, dass sie in der Bevölkerung unbeliebt sind. Mittellosen Familien finanzieren sie daher medizinische Behandlungen im Ausland und bringen nun das modern aufgemachte Magazin Jihad heraus.

Der Chef des Lokalrats wünscht sich die Rückkehr der ausländischen Firmen und den Neustart der Wirtschaft. Doch nach der Ermordung eines indischen Arztes und der Entführung eines italienischen Ingenieurs vor drei Wochen werden Ausländer nicht mehr kommen, gibt er zu. Hinter der von Deutschen gebauten blauen Fassade der Textilfabrik oberhalb der Stadt lagern nun Kurzstreckenraketen.

Künftiger Konflikt

Mit einer Parade von über 100 Pick-ups mit aufmontierten Luftabwehr-MGs und Al-Qaida-Fahnen feierten die Dschihadisten am 4. April die Machtübernahme. Unter neuem Namen als „Islamische Schura Jugend von Derna“ wurde die Einführung der Scharia und das Ende aller libyschen Staatsstrukturen ausgerufen. Juden, Christen und sogenannte Taghouts – Vertreter von staatlichen Institutionen wie Richter und Polizisten – wurden nun offiziell zu Feinden erklärt.

Der zukünftige Konflikt findet in Libyen zwischen Stämmen und Islamisten um die Gunst der perspektivlosen jungen Männer statt, sagt ein politischer Beobachter in Bengasi. Das erinnert an Afghanistan – „nur ist diesmal Europa direkt betroffen“. Im Hafencafé von Derna schauen die Männer stumm auf die im Mittelmeer versinkende Sonne, dort am Horizont liegt Kreta.

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