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Hart am Draußen gedreht

Beim Berliner „Open Mike“, dem wichtigsten deutschsprachigen Literaturwettbewerb für den Nachwuchs, hat Julia Zange mit einem rasanten Text über gewalttätige Mütter gewonnen

Biller konnte in den Texten keine gesellschaftlichen Kämpfe entdecken

VON INES KAPPERT

Meine Ohren machen dicht, der Knall ist gewaltig, ich kann die Lautstärke nur noch über die Erschütterung ahnen. Kinder, Glas, Blumen, zerspringen. Draußen fallen die Kampfhunde von den Wellblechdächern in die Obstgärten.“ Die Bombe explodiert in einem Einkaufszentrum, irgendwo in Deutschland. „Draußen sitzt Mama und diskutiert mit einer Dame über das Kräfteverhältnis der Weltmächte. Nicht der Iran ist das Problem, Madame. Ich sehe, dass Mama sich auf ihren Wildlederschuh gepinkelt hat.“ Die Kurzgeschichte der diesjährigen Gewinnerin des Open-Mike-Literaturwettbewerbs stammt von Julia Zange, heißt „Küsst euch auf die Münder, Kinder!“, und sie ist toll!

Mühelos pendelt die 1983 geborene Erzählerin zwischen kaltem Realismus und fantastischer Übertreibung. Dabei gilt ihr Interesse der Gewalt, vor allem der alltäglichen Barbarei zwischen Eltern und Kindern, die Letztere vor nichts zu schützen wissen. Vor Bombenlegern nicht und vor ihren beißwütigen Spielkameraden noch weniger. Die Worte, die Zange für das tagtäglich neu aufgelegte Inferno findet, sind knapp bemessen. Sie sind nüchtern und ihrer Gemeinheit ungeachtet fast beiläufig. Doch die Bilder, die sie formen, bleiben bei der Lesung in der Literaturwerkstatt in Berlin-Pankow im Gedächtnis hängen: „Die Großmutter sagt nur, Max, Finger aus dem Mund. Max steckt sie bei dem anderen, größeren Jungen rein. Max, hör auf. Sie rüttelt ihn und schlägt ihm gegen das Genick, ohne zu beachten, dass er sich in einem anderen Kind festgebissen hat.“

Auch die zweite Gewinnerin – insgesamt werden bei dem wichtigsten deutschen Nachwuchsliteraturwettbewerb drei erste Preise vergeben – nimmt sich innerfamiliärer Beziehungen an. Die siebenundzwanzigjährige Katharina Schwanbeck erzählt von der Liebe, vom ersten Mal, das nicht wehtat, von der Vespa des Bruders und vom Bruder selbst, denn er ist der Liebhaber. Die Jury, die sich in diesem Jahr aus Maxim Biller, Barbara Köhler und Christoph Geiser zusammensetzt, zieht zu Recht den Vergleich zu „Zementgarten“, der berühmten Inzestgeschichte von Ian McEwan. Schwanbecks Geschichte, „Jargo“ betitelt, ist sorgsam gebaut, der Ton stimmt, und vom heiklen Thema scheinbar unbeeindruckt ist sie wohltemperiert. Der Jury gefiel neben der Entspanntheit zudem die Erotik – „Dreh dich um, sagt er und fährt mit seinem einen Arm unter meinen Körper, umschlingt ihn, hält ihn fest, mit dem anderen Arm streichelt er meine Haut, er schiebt meine Beine ein wenig auseinander und dringt in mich ein.“ Na ja. Viel gefälliger lässt sich Sex wohl nicht beschreiben, vorausgesetzt, man möchte nicht vulgär werden.

Aber wie es sich gehört, formulierten die Juroren, allen voran Maxim Biller, nicht nur Lob, sondern übten auch Kritik an den aus rund 600 Einsendungen ausgesuchten Texten. So monierte Biller, dass kaum Konflikte verhandelt würden, dass Interesse an gesellschaftlichem Kämpfen nicht zu entdecken sei, dass man über den Modus der gesitteten Beschreibung so gut wie nie hinauskäme. Und das, wo Deutschland, wie Biller sagt, „brennt“. Das selbstgenügsame Verharren im wohlerzogenen Mittelschichtsuniversum und den vorauseilenden Gehorsam merkte auch die Lyrikerin Barbara Köhler kritisch an. Die für die Lyrik zuständige Verlegerin von Kookbooks, Daniela Seel, ihrerseits forderte vom Nachwuchs mehr Grundlagenarbeit am Material ein. Denn Fragen wie die, was Sprache ist und was Schriftstellerei bedeutet, sind beantwortet, noch bevor sie überhaupt gestellt wurden.

Doch die hier mehrfach kritisierte Artigkeit des literarischen Nachwuchses ist natürlich kein Zufall, sondern resultiert vorrangig aus einem Fehler im System. Über ein Drittel der TeilnehmerInnen studieren in den Schreibakademien in Leipzig und Hildesheim, durchlaufen also die Kaderschmieden, deren genuine Aufgabe es ist, „junge Talente“ betriebskompatibel zu machen. Und sie sollen nun normbrechende Texte schreiben? Da müsste die Wettbewerbsausschreibung schon andere Orte erreichen, wenn wildere Texte gewünscht werden.

Und so richtig die Kritik der Juroren an der mehrheitlich unpolitischen bis naiven Haltung der Nachwüchsler ist, so erstaunt doch, dass die beiden einzigen Texte, die sich mit Hilfe von Humor herausdrehten aus der Welt des Einfamilienhauses, keine Berücksichtigung fanden.

Der Geschichte von Andreas Stichmann „Alleinstehende Herren“ etwa hätte ich eine Auszeichnung sehr gewünscht. Weil sie darauf verzichtet, sich bei großen literarischen Themen wie Inzest oder Tod die Dramatik zu leihen; und weil die Selbstironie der Erzählerfigur verhindert, dass diese sich so ungeheuer wichtig nimmt – und stattdessen en passant von der Sackgassenwelt der Billiglohnjobs berichtet. Auch Carsten Schneider zeichnet mit seiner grotesken Story vom Neid auf die Voltigierkünste der Nachbarin Fluchtlinien in die Ödnis wohltemperierter Familiengeschichten: „Im Sommergarten“ hätte einen Preis verdient. Dass stattdessen Luise Boege mit „Der Optophonet“ ausgezeichnet wurde, kann ich nur mit Kopfschütteln quittieren.

„Insgesamt aber war es kein schlechtes Jahr.“ So fasst Thomas Tebbe vom Piper Verlag das Wochenende zusammen. „Und in jedem Fall“, so sagt er später über einem Glas Wein, „ist der Open Mike spannender als der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt.“ Umso wichtiger also, dass in diesem Jahr mit der Crespo-Stiftung ein neuer Sponsor gefunden wurde und der Fortbestand der Veranstaltung gesichert ist.

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