: Schöner könnte Musik nicht sein
URBANER KLANG Wie klingt Berlin, wenn man es nicht sehen kann? Das Künstlernetzwerk Ohrenstrand lädt regelmäßig zu Touren durch Berlin ein, in denen die Stadt als musikalisches Ereignis hörbar wird
VON ALEXANDRA ROJKOV
Wäre Berlin eine Sinfonie, dann spielte der Wind darin die erste Geige. „Berlin hat so eine Offenheit im Klang“, schwärmt Thomas Bruns, „dass selbst der Lärm in den Straßen zu pfeifen scheint.“ Für den 45-Jährigen ist dieses Geräusch nicht störend – sondern Musik. Man müsse sich nur auf diese Musik einlassen, sagt Thomas Bruns, und zwar „am besten blind“. Das Künstlernetzwerk Ohrenstrand, dem Bruns angehört, lädt deshalb regelmäßig ein zu einer Tour durch die „Gehörte Stadt“. Sie führt dorthin, wo Berlin hallt und rauscht, wo gelacht wird und geflüstert.
Weil das Wesentliche bei dieser Veranstaltung ohnehin unsichtbar ist, hüllen Schlafbrillen die Teilnehmer des Rundgangs in Dunkelheit. Vom Treffpunkt an der Akademie der Künste geht es dann mitten hinein in Berlins lärmende Daueraufführung. Mit verbundenen Augen spazieren die Teilnehmer durch die Geräuschkulisse der Stadt; schlafwandelnd erkunden sie Innen- und Außenräume, Touristenattraktionen und Ruheplätze.
An einigen Stellen warten Musiker auf die Gruppe und imitieren auf ihren Instrumenten den Sound der Stadt. Das klingt minimalistisch und modern, fast bizarr. Ebendas ist von Ohrenstrand gewollt. „Uns ging es vor allem um eine Vielfalt akustischer Ereignisse“, sagt Thomas Bruns. Auch die Tageszeit war wesentlich: „Vormittags klingt Berlin anders als nachts.“ Deshalb findet die Tour am frühen Abend statt, wenn die Hauptstadt am lebendigsten ist.
Eigentlich ist Thomas Bruns Gitarrist, früher hat er für ein Kammerensemble gespielt. Seit vier Jahren arbeitet er für Ohrenstrand, das sich mit Konzerten und Installationen dem „bewussten Hörerlebnis“ verschrieben hat. „Wir leben in einer akustischen Reizüberflutung“, sagt Bruns, „ständiges Klingeln, permanente Musik.“ Anstatt das Wichtige zu filtern, würden die Menschen diese Geräusche mit einem Klick auf den iPod wegdrücken. Dabei klinge keine Stadt so wie Berlin.
Wer die gehörte Hauptstadt erleben möchte, braucht Zeit und auch Vertrauen. Während der 90-minütigen Führung darf nicht gesprochen werden; wohin die Reise genau geht, erfährt man nicht. Für die Sicherheit sorgt ein persönlicher Guide für jeden Besucher, der sich einhakt. Er stoppt an Ampeln und warnt vor Treppenstufen. Wenn es regnet, trägt der Betreuer auch den Regenschirm. „Der Geführte soll sich fallen lassen können“, sagt Bruns, „nur dann kann er die Stadt wirklich hören.“
Dann klingt Berlin plötzlich wie ein Klackern hoher Absätze auf kaltem Marmorboden. Wie der gedämpfte Straßenlärm zwischen hohen Granitmauern. Berlin ist der Kiesweg, der bei jedem Schritt knirscht, lauter als das Brummen der Autos rechts und links. Und Berlin ist die Welt: es ist Deutsch und Englisch, Russisch und Spanisch. Schöner könnte Musik nicht sein.
■ Die nächste „Gehörte Stadt“ findet am Donnerstag, 9. Dezember um 18.45 Uhr statt und kostet drei Euro. Treffpunkt: Foyer der Akademie der Künste, Pariser Platz 4. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt, Voranmeldung unter 24 74 98 70 oder info@ohrenstrand.net
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen