: Rouma/Amour
NUANCEN Über die vielen Unterschiede der Sprachen der Liebe
■ Stationen: Thúy, Jahrgang 1968, wurde in Saigon, Vietnam geboren und floh als Zehnjährige mit ihrer Familie. Ihr erster Roman, „Der Klang der Fremde“ (Kunstmann), wurde in Kanada und Frankreich ein Bestseller und mit dem Prix littéraires du Gouverneur général ausgezeichnet. Thúy lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Montreal.
■ Silvester: „Wo feiern Sie?“ – „Egal wo ich feiere: Ich schreibe an jedem Silvester meine Eindrücke des Jahres auf die erste Seite meines neuen Tagebuchs. In den letzten Jahren standen da Wörter wie: erstaunlich, glücklich, gesegnet. So bleibt immer ein süßer Nachgeschmack.“ Foto: Benoit Levac
VON KIM THUY
Ich habe gelernt, auf Französisch zu lieben, obwohl mir das Vietnamesische, meine Muttersprache, eine unendliche Palette von Wörtern anbietet, um die Nuancen aller Momente zu beschreiben, die das Herz entflammen, ersticken, beruhigen oder in Aufruhr versetzen.
Wenn ein Mann seinen Namen unter einem Brief durch die drei Worte „je vous aime“, „ich liebe Sie“, ersetzt, gibt er mir das Recht, ihn mit dem Adverb „verliebt“ zu beschreiben. Wenn der gleiche Ausdruck, jevousaime, dagegen in einer Unterhaltung zwischen einem Kind und seinen Eltern fällt (oder zwischen zwei Freunden oder zwischen einer Diva und ihren Bewunderern), so ist er rein platonisch zu verstehen.
Das Vietnamesische hingegen stiftet keine Verwirrung oder Zweideutigkeit. Wenn ein Mann mir schreibt: „anh yeu em“, erklärt er damit eindeutig, dass er in mich verliebt ist, ja, dass er mich leidenschaftlich liebt. Wählt er dagegen „thuong“ anstatt „yeu“, sagt er zwar noch immer, dass er mich liebt, doch er stellt klar, dass diese Liebe ohne Leidenschaft ist, ohne Sinnlichkeit. So hört man „thuong“ vor allem zwischen Mutter und Sohn, zwischen langjährigen Freunden, zwischen Herrchen und Hund …
Sehr oft eignen sich Eheleute, die den Verschleiß der Jahre überlebt haben oder die erst im Laufe ihrer gemeinsamen Zeit ein Paar geworden sind, den Ausdruck „tinh ngh a“ an; er beschreibt eheliche Zuneigung, Verbundenheit oder Treue. In die westliche Kultur würde ich den Ausdruck „tinh ngh a“ mit emotionaler Bindung oder Wechselbeziehung übersetzen. Oder aber ich würde ein Loblied auf die mütterliche Aufopferung anstimmen, denn die Mütter der westlichen Welt verwenden „tinh ngh a“ fast immer zusammen mit dem Wort „Kind“, als wenn erst durch die Mutterschaft und nicht schon durch die eheliche Liebe ein Bund entstünde.
Aber vielleicht irre ich mich ja. Vielleicht lieben diese Frauen ihren Mann nur im Privaten leidenschaftlich; vielleicht sprechen sie das Wort „yeu“ nur aus, nachdem sie die Öllampen ausgelöscht, die Moskitonetze rund um das Bett heruntergelassen und ihre Enden unter die Matratze gestopft haben. Vielleicht lebt das Wort „yeu“ auch nur in Gesten: Wenn sie vorsichtig die noch dampfenden Fischhälften ausstreichen, um sie ihrem Mann in die Schale zu legen, wenn sie versuchen, die heiße Luft mit einer hypnotisierenden Bewegung ihres Fächers zu vertreiben, oder wenn sie ohne jeden Vorwurf abends im Dunkeln warten, während sich ihr Mann in den Armen einer Jugend verirrt, die sie nicht mehr besitzen.
Ich kenne all diese Liebesworte im Vietnamesischen, doch ich wüsste nicht, wie ich sie in einem Satz verwenden sollte, vor einem Menschen, unter seinem Blick. Ich bin in einer Kultur erzogen worden, in der die feinen Nuancen dieser Worte keine Grundlage haben. Sie gelten als lächerlich, ja sogar nutzlos, angesichts der fleischlichen Begierde, der körperlichen Liebe oder der sexuellen Leidenschaft. All die Nuancen des Vietnamesischen sind verschwunden, sobald ich es wagte, ohne meine Augen mit den Händen zu bedecken, mit dem Blick den Kurven eines Liebhabers zu folgen, wie er dort ausgesetzt ist, nackt, ohne Laken oder Decke, in einem schwebenden, endlosen Moment. Trotz der arktischen Winde, die jenseits der vereisten Fenster durch die Straßen fegten, lag jener Mann lang ausgestreckt unter einem trägen Ventilator, der heiße Luft an seine Haut trieb. Im Schatten der lichtdurchströmten Fensterläden stellte er die berauschende Schönheit seiner Beine, seinen muskulösen Rücken, seinen knackigen Po ganz selbstverständlich in der Mitte des Raumes zur Schau. Dieses Zimmer war zur ganzen Wohnung hin offen, um nicht zu sagen: zur ganzen Welt. Er zeigte sich mit einer solchen Leichtigkeit, Einfachheit und Selbstverständlichkeit, dass sich mein Schamgefühl diskret zurückzog, ohne Protest, ohne Widerstand.
Seitdem habe ich gelernt die unterschiedlichen Gefühle klar zu benennen. Ich kann „begehren“ und „lieben“, „lust“ und „love“, „yeu“ und „thuong“ voneinander abgrenzen, aber ich bin nicht imstande, all diese Worte laut auszusprechen. Noch immer schnürt sich mein Hals zusammen, wenn ich die alten Geschichten über die vietnamesischen Soldaten höre, die in Zeiten des Krieges verliebt gestorben sind. Man erzählte mir, dass einer dieser Männer in Uniform seine Erkennungsmarke aus kaltem Metall in den Türschlitz am Haus seiner heimlichen Geliebten gleiten ließ, bevor er in den Wald verschwand, wo ihn unter Blätter- und Reisighaufen Bambusfallen erwarteten, um sein Herz zu durchbohren. Sosehr und solange mein Herz – meines, das ganz geblieben ist – solche Gedichte weinen kann …
„Anh tang em
Cuoc doi anh khong song
Giac mo anh chi mo
Mot tam hon anh de trong
Nhung dem trang mong cho?
[…]“
„Ich biete dir das Leben, das
ich nicht lebte,
Den Traum, den ich nur träu-
men kann,
Eine Seele, die ich leer ließ,
Während der weißen Nächte
des Wartens […]“
… sosehr und solange ich die Last dieser Worte verstehe, werde ich mir nicht erlauben, „je t’aime“ zu sagen, wenn ich besoffen vor Glück bin – weil mir ein Mann einen Kamillentee bringt oder weil ich die Wärme seines Körpers an meinem spüre vor einer Landschaft, in der der Horizont verschwimmt und ein naives Blau zurücklässt, das Himmel und Meer verbindet. In solchen Momenten der Schwerelosigkeit, in denen sich alle Kräfte aufheben, wird der Körper leicht und lässt sich von einem einzigen Kuss, einem einzigen flammenden Vers davontragen. Oft genug haben mich diese und ähnliche Töne eingewickelt und eingelullt, denn sie wissen sich sanft murmelnd an meine Seite zu schleichen, um sich am Fuße meines Herzens einzunisten. Jedes Mal gerate ich ins Wanken. Ich verliebe mich nicht nur in die Melodie dieser Worte, sondern vor allem in die Sprache, die ihnen einen Sinn gibt. Schließlich will ich immer mehr davon. Ich verschlinge sie genießerisch, manchmal gleich mit bebenden Lippen, manchmal mit den Händen, die auf dem Papier schwarze Zeichen anordnen, um sie jederzeit erklingen zu lassen. Manchmal, in mondlosen Nächten, versuchen die vietnamesischen Worte mich heimlich zu verführen. Sie offenbaren sich mir als Schatten, als neblig-leichte, wattig-weiche Silhouetten, als wollten sie mich verwirren. Manchmal sickern sie still und leise in die Tinte der größten Federn ein. Und so kam es, dass ich Marguerite Duras auf ihrem Weg von Vinh Long nach Sa Dec folgte. Ich wanderte mit ihr durch die große südvietnamesische Ebene aus Schlamm und Reis, die damals Cochinchina genannt wurde und von den Entdeckern der Moderne den liebevollen Beinamen Mekong-Delta erhielt. Unter dieser tropischen Sonne strömten Gerüche von gerösteten Erdnüssen, goldenen Ananas und honigsüßem Zuckerrohr zusammen, um mich in die Kindheit zurückzutragen, zum ersten Liebeswort, das die Verkäuferin irgendeiner Soja-Ingwer-Creme mit Leben erfüllte: „cungcung oi!“, „mein Liebling!“.
Aber meinte sie wirklich „mein Liebling“? Ich habe lange gedacht, dass „cung oi“ und „mein Liebling“ sich ähnelten, dass sich das eine im anderen widerspiegele. So kann das eine nicht ohne das andere übersetzt werden. „Cung“ und „Liebling“ vervollständigen sich gegenseitig; zusammen haben sie meine Arme so lang werden lassen, dass ich die Worte von Tim O’Brien umarmen kann, als beschrieben sie nicht nur den Vietnamkrieg, sondern alle Kriege – solche auf den Titelseiten oder solche, von denen niemand spricht, die langen und die kurzen, zerstörerisch wie ein Tornado oder heimtückisch wie Krebs. All diese Kriege – ob sie nun auf Englisch oder Sanskrit beschrieben werden, auf Vietnamesisch oder Innu, auf Französisch oder Suaheli – lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen:
„Letztendlich handelt eine Geschichte über den Krieg niemals vom Krieg. Sie handelt vom Sonnenlicht. Sie handelt von der besonderen Art und Weise, wie die Morgendämmerung sich über einem Fluss ausbreitet, wenn du weißt, dass du diesen Fluss überqueren, zum Gebirge gehen und Dinge tun musst, die dir Angst einjagen. Sie handelt von Liebe und Erinnerung. Sie handelt von Traurigkeit.“
Ich irre umher zwischen der Traurigkeit desjenigen, der abreist, ohne zu wissen, wann und ob er wiederkehrt, und der Traurigkeit derjenigen, die mit aussichtslosen Versprechungen zurückbleibt. Ich reise zwischen der Erinnerung desjenigen, der mitten in der Nacht schweißgebadet irgendwo in Minnesota aufwacht, und der Erinnerung derjenigen, die mit einem leeren Glas vor sich Worte fantasiert. Ich schwebe zwischen der Liebe desjenigen, der gegen seinen Willen das großartige Orange der Napalmbomben bewundert, und der Liebe derjenigen, die mit ihrem Finger über den gestanzten Namen auf einer Plakette fährt, die einem Mann gehört, dessen Gesicht sie nicht kennt.
Ich irre umher. Ich reise. Ich schwebe. Ich irre und verirre mich in der Mulde am Schlüsselbein eines Mannes mit hellen Haaren und kobaltblauen Augen, der mich an der Kreuzung meiner drei Welten abholt, wo die Worte sich in einem Konzert vereinen, manchmal widersprüchlich im Klang, aber immer komplizenhaft, verliebt.
Aus dem Französischen von Christina Felschen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen