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Poloniumskandal zieht weite Kreise

Russen verhören Hauptzeugen im Fall Litvinenko. Weiterer Zeuge samt Familie spurlos verschwunden

MOSKAU taz ■ Nach einer Woche Hinhaltetaktik vernahmen russische Ermittler am Montag den russischen Geschäftsmann Andrej Lugowoi. Die Experten von Scotland Yard durften an dem Verhör teilnehmen, aber keine Fragen stellen. Mit der Verzögerung rächte sich Moskau an der Politik Londons, das gegenüber dem Kreml nicht einknickt. Auch Lugowoi gehört zum früheren Kader des sowjetischen Geheimdienstes KGB und war lange in der Nachfolgeorganisation FSB aktiv. Er gilt als Hauptzeuge im Fall des vergifteten Russen Alexander Litvinenko.

Laut britischen Medienberichten soll Scotland Yard Lugowoi für einen der Hauptverdächtigen halten. Am Tag vor Litvinenkos Erkrankung traf Lugowoi den früheren Kollegen in einer Londoner Bar, in der Poloniumspuren gefunden wurden. „Ich habe auf alle Fragen der Ermittler umfassend geantwortet“, sagte Lugowoi der Agentur Interfax. Er bleibt dabei, mit der Tat nichts zu tun zu haben. In einem Moskauer Krankenhaus soll er weiter auf radioaktive Kontaminierung untersucht werden. Er teilte mit, eine Verpflichtungserklärung abgegeben zu haben, keine Geheimnisse der laufenden Untersuchung preiszugeben.

Der Poloniumskandal zieht unterdessen immer weitere Kreise und erreichte gestern Südfrankreich. Dort sucht die Polizei nach Jewgeni Limarjew und Angehörigen. Seit dem 8. Dezember fehlt von der dreiköpfigen Familie aus Cloyes jede Spur. Auch Limarjew zählt zu den Zeugen im Fall Litvinenko. In russischen Medien wird er als enger Kollege Litvinenkos gehandelt. Am Vortag des Verschwindens hatte Limarjew dem Daily Telegraph von einer „schwarzen Liste“ berichtet mit Namen potenzieller Opfer. Über die Liste will Limarjew den ebenfalls Polonium-verseuchten italienischen Geheimdienstexperten Mario Scaramelli sowie Litvinenko informiert haben. Angeblich habe er auch Hinweise einer Beteiligung des russischen Geheimdienstes am Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober weitergeleitet. „Ich bin der Dritte, der im Zusammenhang mit der Liste erwähnt wird. Alexander ist tot, Mario könnte sterben. Ich kann der Nächste sein“, sagte er der britischen Zeitung. Am Tag der Veröffentlichung verliert sich die Spur der Limarjews.

Der 41-Jährige soll nach russischen Medienberichten Sohn eines Exgenerals der sowjetischen Auslandsaufklärung sein. Limarjew beschuldigt deren Veteranenverein „tschest i dostoinstwo“ – Ehre und Würde –, den Anschlag auf Litvinenko verübt zu haben. Dessen Vereinsvorsitzender Oberst Walentin Welitschko wurde in den 80er-Jahren wegen Spionage aus den Niederlanden ausgewiesen. 2004 taucht Welitschkos Name erstmals wieder im Zusammenhang mit der Befreiung des Arztes Arian Erkel auf. Der holländische Leiter der im Kaukasus tätigen „Ärzte ohne Grenzen“ war entführt und mehr als ein Jahr gefangen gehalten worden.

Limarjew lebt seit 2000 in Frankreich und pflegt enge Beziehungen zu dem nach England geflohenen russischen Oligarchen Boris Beresowski. 2002 recherchierte Limarjew mit dem Journalisten und Dumaabgeordneten Juri Schtschekotschichin Korruptionsfälle in Geheimdienst- und Sicherheitskreisen. Einige wurden in der Nowaja Gaseta veröffentlicht. Monate später starb Schtschekotschichin. Gift wurde als Ursache vermutet. Eine Untersuchung fand nie statt. KLAUS-HELGE DONATH

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