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Lizenz moderner Mobilität

Bernhard Siegerts Studie zur Erfindung des Passagiers im Spanien des 16. Jahrhunderts

Die Erfindung des Passagiers – das ist die Geschichte, die Bernhard Siegert in seinem schmalen Band „Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien und Amerika“ aufrollen möchte. Dabei wird zunächst die Frage gestellt: Was genau macht einen Reisenden zum Passagier? Antwort: die Lizenz, der Passagierschein, das Papier also, oder wie Siegert schreibt: die „Initiation“ des Reisenden „in der Schrift“. Die Erfindung des Passagiers ist untrennbar vom königlich autorisierten Schreibakt und dem damit verbundenen Versuch, Kontrolle über die Auswanderung nach Amerika auszuüben. Passagier bezeichnete zunächst eine Person, die sich mit der Erlaubnis des spanischen Königshauses einschiffte, um in die Neue Welt zu gelangen.

Die erste Institution, die diese Erlaubnis ausstellte, war die 1503 gegründete „Casa de la Contratácion de las Indias“ in Sevilla. Der Passagier also ist alt. Und für Siegert verkörpert er den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit, von der Alten Welt in die Neue, von Europa nach Amerika, vom mittelalterlichen zum modernen Untertanensubjekt.

Wie der – trotz poststrukturalistischen Jargons – unterhaltsamen Kulturgeschichte Siegerts zu entnehmen ist, war es gar nicht so einfach, in den Besitz eines Passierscheins zu kommen. Nichts weniger als die Reinheit des eigenen Bluts galt es in Verhören unter Beweis zu stellen. Unzweifelhaft hatte man sich vom Müßiggänger, Abenteurer, Vagabunden, vom Juden, Muslimen, Mauren und konvertierten Christen zu unterscheiden. Der ordnungsgemäß lizensierte Reisende war reiner Christ. Dabei machte ihn nicht etwa sein Glaube zum verlässlichen Botschafter der spanischen Krone in der Neuen Welt, sondern seine Herkunft. Seine Eltern und Großeltern mussten nachweislich auch schon Christen gewesen sein.

Am 28. Januar 1563 legte daher etwa Diego Ordonez aus Ejica dem Casa einen vorgefertigten Fragebogen vor und bat die anwesenden Zeugen zu bestätigen, „ob sie wissen, dass der genannte Diego Ordonez und seine genannten Eltern und Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits alle Altchristen und weder Neukonvertierten noch Juden oder Mauren sind und waren, noch Personen die das Büßerhemd getragen haben oder verbrannt wurden“.

Doch der Versuch, Kontrolle über die Migration zu ausüben, indem man die christliche Identität „in der Schrift vertaute“, wie Siegert es formuliert, und tausende von Akten anlegte, scheiterte. Denn just die für die Erfassung von so vielen Menschen notwendige Formalisierung der Befragung und ihre standardisierte Verschriftlichung markierten die Sollbruchstelle im System. So vermochten diese Bezeugungs- und Registrierverfahren nicht zu verhindern, dass die Zeugen nur in vorgegebenen Formulierungen wiederholten, was man ihnen zur Bezeugung aufgetragen hatte. Ein anderes Problem war die Fremde. Wie sollte unterbunden werden, dass der Passagierschein während der Reise an jemand anderes weitergegeben wurde?

Das Problem der unhintergehbaren Identifizierung der „papierenen Person“ mit der lebenden wollte Philipp II. lösen, indem er jeweils einen Schreiber mit an Bord schickte. Dieser hatte sicherzustellen, dass die Leute, die von ihm bei der Abreise registriert waren, auch die waren, die am Zielort das Schiff verließen. Die zahlreichen Gerichtsverfahren gegen unzuverlässige Schreiber und Kapitäne zeugen von der Wichtigkeit, mittels eines Dieners der Krone den Einflussbereich auf fremdem Territorium zu sichern. Gleichwohl: Der Zustrom der Menschen unreinen Blutes nach Amerika, die gemeinhin als Vagabunden bezeichnet wurden, ließ sich so nicht unterbinden. Infolgedessen ein Richter 1544 erbost an Philipp II. schrieb: „Die vagabundierenden Spanier sind wie Gras: Sie wachsen und vermehren sich von Tag zu Tag.“ Die Institution der Ehe sollte Abhilfe schaffen: Nach zwei Jahren, so die Regelung von 1551, sollte der Passagier seine Frau nachholen und in der Neuen Welt sesshaft werden. Der Passagier als Personifizierung einer auf Arbeit und Ordnung ausgerichteten Mobilität wird so als Bollwerk gegen den Müßiggänger ohne festen Wohnsitz eingesetzt. Für Siegert, der sich durch bislang kaum erforschte Quellen aus dem heutigen Archiv in Sevilla gelesen hat, verkörpert er nichts weniger als die Keimzelle des modernen Staates.

INES KAPPERT

Bernhard Siegert: „Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien und Amerika“. 176 Seiten, Wilhelm Fink Verlag 2006, 19,90 €

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