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Das Ende der Geschichten

Es begab sich vor gar nicht langer Zeit, dass Automaten U-Bahn-Reisende mit Märchen beglückten. Dann aber verjagte die BVG die bunten Kästen von ihren Bahnsteigen. Eine grausame Geschichte aus der Berliner Realität

von Nina Apin

Es war einmal ein Metallkasten, der sah aus wie ein Kaugummiautomat, nur bunter. Er war randvoll mit ausgedachten Geschichten über Prinzessinnen, Zauberer und Papageien, die in Wirklichkeit Pinguine sind. Warf man einen Euro in den Münzeinwurfschlitz und drehte an der Kurbel, spuckte der Automat einen Märchenbrief des Geschichtenerzählers Radomir Runzelschuh aus. Seine Märchen konnte man prima unterwegs lesen, um die Langeweile zu vertreiben. Darum hingen die Automaten am Bahnhof Zoo und am U-Bahnhof Bismarckstraße, wo sich die Reisenden schnell mal ein Märchen ziehen konnten. Der Vorrat an Geschichten ging nie aus, weil ganz viele Kinder dem Herrn Runzelschuh ein Märchen zurückschickten, das er dann wieder in die bunten Kästen steckte.

Zwölf Jahre ging das gut. Doch eines Tages beschloss die Berliner Verkehrsgesellschaft BVG, in deren Königreich die bunten Kästen hingen, Radomir Runzelschuh zu verjagen. Sie schickte ihm einen Brief mit schwarz-gelbem Logo, in dem stand, dass sein Stellflächenmietvertrag zum 31. März auslaufen werde und dass er bis dahin alle seine Märchenautomaten von den Wänden des BVG-Reichs entfernen sollte. Seine angemieteten Lagerräume für Briefe und Ersatzteile dürfe er aber behalten.

Runzelschuh wunderte sich sehr, die Stellflächenkönige hatten ihm nicht einmal gesagt, warum er gehen sollte. Vielleicht, überlegte der Geschasste, brachten die Märchen zu wenig Geld ein. Vielleicht waren Kaugummi-, Snack- und Handykartenautomaten moderner oder andere Automatenaufsteller einflussreicher als er.

Vielleicht lag es auch an den Kindern, die immer weniger Geschichten schickten. Anfangs waren es noch 1.500, denen Runzelschuh persönlich mit Briefen und Bonbons dankte, zuletzt nicht einmal mehr zehn im Jahr. „In Zeiten von Handy und Computerspielen ist es nicht mehr in, sich hinzusetzen und einen Brief zu schreiben“, bedauert Radomir Runzelschuh, der in Wirklichkeit Ferry Ebert heißt und früher sein Geld mit dem Bau von Kondom- und Süßwarenautomaten verdient hatte. Vor 15 Jahren fand er, dass es in der Welt genug Noppenkondome und Kaugummikugeln gebe, aber zu wenig schöne Geschichten. Also baute Ebert hundert Automaten für „365 Märchen, so viele Tage das Jahr zählt“. Für den Inhalt bat er Journalisten und Schriftsteller um positive Geschichten, die weniger brutal sein sollten als herkömmliche Märchen.

Bald schon waren die Profis überflüssig, in den Automaten lagen überwiegend von Kindern geschriebene Geschichten. Aus Berlin bekam Radomir Runzelschuh „die tollste Post“, wie er sagt. Allein die Briefe eines zwölfjährigen Mädchens füllten einen ganzen Ordner. Für den inzwischen 72-jährigen Märchenonkel und zweifachen Opa sind die über die Jahre gesammelten Kindermärchen sein größter Schatz. Als Bücher und auf Vorleseabenden sind Radomir Runzelschuh und seine Märchen immer noch gefragt, auch wenn das Automatenzeitalter in Berlin inzwischen vorbei ist.

Der letzte verbliebene Märchenautomat hängt als Anschauungsobjekt im Kindermuseum Labyrinth. Und wenn er nicht gestorben ist, wird er dort noch lange hängen und Geschichten ausspucken wie: „Es war einmal ein bunter Kasten …“

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