: Die Königskrone ist aus Pappe
STAATSOPER René Jacobs führt die Oper „Antigona“ von Tommaso Traetta auf. Der heute vergessene Komponist war wegweisend für die Entwicklung der Klassik – in der Staatsoper wird daraus ein Gepiepse für Ödipus’ Kinder
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Ein blauer Urlaubshimmel mit weißen Federwölkchen schließt die Bühne ab, davor liegt ein sandfarbenes Feld, auf dem in der Mitte ein Hochsitz steht – etwas wacklig, nur ein billiger Plastik-Strandstuhl auf Metallstäbe montiert. Kinder kommen hereingerannt, zwei Jungen und zwei Mädchen. Beim Spielen finden sie unter einem weggeworfenen Jutesack eine goldene Krone, auch billig, aus Pappe, wie sie von der Bäckerei zum Dreikönigskuchen geliefert wird. Alle wollen sie haben, aber bald sind es nur noch die beiden Jungen, die sich darum balgen. Wenn einer sie hat, klettert er auf den Hochsitz, der bedrohlich schwankt, der andre hinterher …
Ein wunderbarer Einstieg in eine der erschütterndsten Tragödien der europäischen Literatur, den sich die bulgarische Regisseurin Vera Nemirova zusammen mit Werner Hutterli (Bild) und Birgitt Hutter (Kostüme) ausgedacht hat. Die vier Kinder heißen Antigone, Ismene, Polyneikes und Eteokles und sind gezeugt worden von Ödipus mit seiner Mutter Jokaste. So lustig sie herumtoben, der Fluch der psychoanalytischen Urszene liegt bis heute auf ihnen. Nur die Kostüme sind neu, wir erleben bedrückend gegenwärtig, wie zuerst Antigone, dann widerstrebend und ängstlich auch Ismene versuchen, dieser Familie aller Familien zu entkommen. Die Brüder schlagen sich gegenseitig tot, noch bevor das Drama der Schwestern beginnt.
Die Frauen werden überleben, denn gespielt wird an der Staatsoper nicht Sophokles, sondern ein Stück von Marco Coltellini, vertont von Tommaso Traetta, uraufgeführt 1772 am Hof von Katharina II. in Petersburg. Beide, Text und Musik, sind Zeugnisse der beginnenden Aufklärung und werben für eine Vernunft, an die Sophokles noch nicht und Freud nicht mehr glauben konnte. Coltellinis Zentralfigur ist nicht Antigone, sondern Kreon, der den Bruderzwist ausnutzt, um selbst auf Thebens Thron zu steigen, und glaubt, seine Herrschaft mit einem Richterspruch festigen zu müssen: Der eine Bruder solle im Grabmal des Vaters Laios, den Ödipus erschlagen hatte, beigesetzt, der andere den Geiern zum Fraß vorgeworfen werden.
Bei Sophokles führt er damit seinen eigenen Untergang herbei, bei Coltellini lässt er sich von Antigones Argumenten des Mitleids überzeugen. Der Höhepunkt des Dramas ist mit der Einsicht erreicht, dass nicht Götter und Schicksal schuld sind an dem Leid, das erneut über Theben hereinbricht, sondern er allein, der König Kreon. Traetta lässt an dieser Stelle seine Musik schweigen, nur das Hammerklavier begleitet mit wenigen Akkorden die Stimme des Sängers, als habe er gespürt, dass seine Kunst noch nicht ausreicht für diese epochale Botschaft.
Noch seltsamer aber ist, dass diese Musik, die so vieles kann, sich mit ergreifenden Klagearien und gewichtigen Chorsätzen an Sophokles misst und ihn übersetzt für sein Publikum, im Schillertheater klingt, als sei die neue Zeit, für die sie steht, noch gar nicht angebrochen. Das liegt an René Jacobs, der auch auf dieses erstaunliche Werk seine Methode der Rekonstruktion historischer Klänge anwendet und dabei vergisst, auf den Geist dieser Musik zu hören. Der liegt nicht in den Instrumenten und der Gesangstechnik, die ein hervorragendes Ensemble in bewährter Manier perfekt zelebriert und doch nicht mehr zustande bringt als eine merkwürdig missratene, piepsige Sonderanfertigung für die heimische Plattensammlung. Traettas historische Bedeutung ist weit größer, als diese marktkonforme Verpackung erkennen lässt. Er kann ja nichts dafür, dass dann Mozart kam. Was trotz allem an der Staatsoper zu hören ist, sind nichts weniger als Mozarts Wurzeln. Alles, was dort vollendet wurde, ist bei Traetta angelegt, mindestens als Skizze und manchmal auch schon meisterhaft zu Ende geführt. Ödipus’ Kinder spielen, man muss Mitleid mit ihnen haben.
■ Nächste Vorstellungen: 1., 3., 8. Februar
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