: Künstlich erzeugter Schriftenwirrwarr
SCHREIBSCHRIFT Wieder soll eine neue Schrift Schulen und Kinder zwangsbeglücken. Es wiederholt sich die Geschichte der Schriftverwirrung durch sogenannte Ausgangsschriften. Der Wirrwarr ist gemacht – von der Schreiblobby des Grundschulverbandes
VON UTE ANDRESEN
„Deine Gedanken verdienen ein schönes Kleid, damit jeder sie gerne lesen mag.“ Was entnimmt ein Kind aus so einer liebevollen Rückmeldung unter seinem schlampig geschriebenen Text? Wie wird es darauf reagieren? Je nachdem!
Vielleicht denkt es: „Mein Lehrer mag mich. Er hat sich Mühe gegeben mit dem, was ich ihm abgegeben habe.“
Oder: „Er möchte, dass jeder meine Gedanken liest, so sehr schätzt er sie.“
Möglicherweise auch das: „Er ist freundlich, obwohl ich so geschmiert habe. Da schreib ich ein andermal lieber besser.“
So ein pädagogischer Effekt ist nicht zuverlässig zu haben. Nicht auf Knopfdruck und nicht mit Schmeichelei. Schon gar nicht, wenn der junge Philosoph niemals eine flüssige, gut lesbare Handschrift erlernt hat. Er ahnt sicher, dass ohne seine Schuld etwas Grundsätzliches versäumt wurde: Ihm das Erlernen einer verlässlichen, klaren, flüssigen Handschrift von den ersten Schulwochen an zur unausweichlichen Aufgabe zu machen. Und ihn bei deren Bewältigung klug zu unterstützen. Kurz: Ihm eine gute Handschrift beizubringen. Die ihn zu einem höflichen Partner in den schriftlichen Dialogen der Schulzeit macht. Die ihm in Studium und Beruf als brauchbare Notizschrift dienen kann. Die im Stolz auf die ersten voll gelungenen, eindeutig eigenen Buchstaben stabil wurzelt.
Neben Hast, Desinteresse und mangelnder Übung sind es zwei Umstände, die gegenwärtig viele Kinder um diesen Stolz betrügen: Man lässt sie über Monate nach einer Tabelle oder in vorgedruckten Schreiblernheften als erste Handschrift Druckbuchstaben abmalen. Und vergisst, sie behutsam, persönlich und verbindlich in die jeweils richtige Linienführung einzuweisen. So üben sie sich unbemerkt falsche Bewegungsmuster ein. Später behindern die den fließenden Übergang vom einen zum anderen Buchstaben. Die eigenen Schreibgewohnheiten werden dann zum Gegner im Kampf um eine verbundene Schrift. Das verquickt jeden Schreibversuch mit Ärger und Vergeblichkeit. Gewohnheit ist ein eisernes Hemd!
Schriften mit verbundenen Buchstaben nennen wir Schreibschrift. Es gibt bei uns drei Muster dafür: die Lateinische Ausgangsschrift LA, die Schulausgangsschrift SAS und die Vereinfachte Ausgangsschrift VA, in den Schulen eingeführt in dieser Reihenfolge. Wie die Kinder ihre Schreibschrift schreiben, das soll mit der Einübung dieser Ausgangsschriften beginnen. Alle Linienführungen einschließlich der Verbindung der Buchstaben sind vorgeschrieben. Aber nur wenige Kinder können ihnen nach dem Vordruck in den überall herrschenden Heften genau und zügig folgen. Den meisten fehlt die geduldige Anleitung zur Formung ihrer Schrift in rhythmischen Schreibbewegungen durch einen Erwachsenen.
Das Ergebnis: Schriftelend ringsum. Verdruss und Hilflosigkeit bei Kindern, Eltern, LehrerInnen. Klare, lesbare, flüssige Schreibschriften sind in den Schulen Ausnahmen. Allerdings gibt es auch Klassen, in denen alle Kinder so eine Handschrift haben. Wieso? Weil da jemand ist, der sie darauf verpflichtet und es ihnen selbst gezeigt, mit ihnen geübt und keine Nachlässigkeit geduldet hat. Sie bedeckt vor den Augen der Kinder manchmal die ganze Tafel mit ihrer schönen Schrift. Welch ein Vorbild! Eine Meisterin! Auch mal ein Meister.
Von solcher Schriftkultur ist im Süden und Osten Deutschlands noch erheblich mehr zu finden als zum Beispiel im großen Nordrhein-Westfalen. Dort hat die sogenannte Vereinfachte Ausgangsschrift die angeblich zu schwierige Lateinische Ausgangsschrift wohl am erfolgreichsten verdrängt. Im Osten dominiert immer noch die Schulausgangsschrift. 1968 wurde die Schulausgangsschrift in der DDR eingeführt. In Baden-Württemberg sollten die Schulen vor vielen Jahren entscheiden, ob sie bei der Lateinischen bleiben oder die Vereinfachte einführen wollten. Wer auf die vermeintlich vereinfachte Schrift umstieg, bereut es längst. Bayern hat diese Schrift zuletzt, nämlich erst 2000 und dann bindend eingeführt. Eine rätselhafte Entscheidung! Jetzt trifft man auch in Bayern auf LehrerInnen und Eltern, die über den Handschriften der Kinder verzweifeln.
Mit der Verdrängung der Lateinischen durch die vereinfachte Ausgangsschrift ist etwas passiert, was sich jetzt abgewandelt wiederholen soll. Seinerzeit hat im damaligen Arbeitskreis Grundschule eine kleine Gruppe, die Arbeitsgemeinschaft Schreiberziehung, den Schriftwechsel zur vereinfachten Ausgangsschrift vorbereitet, beschlossen und mit Tamtam in Form von Fortschrittspropaganda eingeleitet. Aber es gab auch Widerstand. Weil sehr viele Erwachsene, LehrerInnen wie Eltern, die neue Schrift schon als Schriftmuster hässlich fanden. Aber auch aus einem wohl noch gewichtigeren Grund: Diese neue Schrift VA war so prinzipiell anders zu schreiben, mit einem Halt an der oberen Mittellinie nach jedem Buchstaben statt mit gleitendem Übergang vom einen zum andern, dass allen, die die bisherige Lateinische Ausgangsschrift routiniert und erfolgreich unterrichten konnten, klar sein musste: Die angeblich vereinfachte Schrift kann ich den Kindern nicht auf meine Weise und zuverlässig vermitteln. Die VA folgt anderen Prinzipien als die lateinische Ausgangsschrift. Ob aus dieser Schrift bei mir gute Kinderschriften werden, kann ich mit solchen Buchstaben und mit angeblichen Vereinfachungen nicht garantieren.
Diese Entmündigung gewachsener Lehrkompetenz durch die aufgeschwatzte, verordnete oder erzwungene Übernahme der VA in die Schulen veränderte das Erlernen der Schreibschrift. Jetzt wurde es allgemein üblich, persönlich verantworteten Unterricht durch vorgedruckte Lernhefte zu ersetzen. Das Ergebnis sieht man den Handschriften der Kinder an: Die neue vereinfachte Ausgangsschrift VA taugt viel weniger zur Ausgangsschrift für die Hand der Kinder als die alten Ausgangsschriften. Die LehrerInnen fühlen sich allgemein nicht mehr so wie früher für die Handschriften der Kinder verantwortlich. Das Thema Handschrift ist resignativ besetzt.
Die mit so viel Verheißungen auf die Bühne geschobene VA ist von Haus aus nicht schön. Es verdirbt Kindern und LehrerInnen die Laune, wenn sie auf so ein sperriges Werkzeug angewiesen sind. Und darüber hinaus: Es ärgert die Eltern, dass sie nicht wissen, was eigentlich falsch ist an der Klaue ihrer Sprösslinge.
Jetzt hat wieder eine kleine Einflussgruppe – Horst Bartnitzky, Ulrich Hecker, Erika Brinkmann, Hans Brügelmann – im selben Stall wie seinerzeit den Plan für eine neue Schrift ausgeheckt. Nur ist diesmal alles viel gefährlicher: Denn der Arbeitskreis Grundschule heißt inzwischen Grundschulverband – und ist ein mächtige Lobby geworden. Sein Vorstand hat jetzt Zugang zu allen entscheidenden Instanzen in den 16 Kultusministerien, kann auf Referenten und Lehrpläne einwirken und will offenbar versuchen, gleich die ganze Kultusministerkonferenz für die neue Schrift – werbewirksam „Grundschrift“ – für alle zu begeistern.
Das lässt sich politisch gut als wählerfreundlich vermarkten: Nur noch eine Ausgangsschrift und Schulwechsel ohne Schriftwechsel! Aber Vorsicht: Der Fortschritt kommt wieder trügerisch daher! Das Desaster, das die eigene Organisation einst mit ihrer Propaganda für die angeblich vereinfachte Aussgangsschrift VA angerichtet hat, wird nicht reflektiert, sondern unterschlagen. Das Desaster wird sogar genutzt! Man fordert energisch, den Schriftenwirrwarr endlich zu beenden – obwohl es doch die eigene Organisation angerichtet hat.
Die schöne Schulausgangsschrift SAS, welche die östlichen Länder mit ihrer geläuterten Tradition eines gründlichen Schriftunterrichts in die Einheitsehe eingebracht haben, ist für keinerlei Wirrwarr verantwortlich. Die praktisch bewährte LA auch nicht. Und diese beiden Ausgangsschriften sind einander so ähnlich wie aus demselben Stamm gewachsen. Das war seinerzeit die Normalschrift, die 1941 im Deutschen Reich allgemein eingeführt wurde. So haben die beiden Ausgangsschriften fast durchgehend dieselben Kleinbuchstaben. Man studiere unser nicht ganz vollkommenes Alphabet. Sie haben auch dieselben Verbindungsregeln. Nur die Großbuchstaben der SAS sind einfacher als die der lateinischen Ausgangsschrift, näher an den Druckbuchstaben.
Wir brauchen eine gemeinsame Ausgangsschrift für die Schreibschriften der Kinder in ganz Deutschland – aber wir brauchen weder eine neue Schrift noch neue Methoden. Wir haben ja die Schulausgangsschrift. Und wir haben in Ost und West viele Erwachsene, die diese Schrift gut schreiben und auch Kindern Vorbild sein können. Alle, die mit der LA oder SAS aufgewachsen sind oder eine von beiden schon unterrichtet haben. Da zeigt man den Kindern, wie die einzeln stehenden kleinen Druckbuchstaben, die sie schreiben können, jetzt links und rechts die Ärmchen ausstrecken, damit sie ihre Nachbarn im Wort anfassen können. Das ist kinderlogisch. Wie man den Kleinen dabei helfen kann, dass sie am Ende alle schön dastehen, das will man gerne lernen. Und wenn die Kinder mit ihrer schon im Druckschriftlehrgang geübten Feinmotorik, mit ihrer inzwischen verfeinerten Formwahrnehmung und nun viel besseren Koordination von Auge und Hand diese zweite, aus der ersten abgeleitete Schrift zu üben beginnen, stellen sie fest: Das ist ja viel, viel leichter als die erste Schrift! Juhu!
Den beiden Grundschulrektoren, die für den Grundschulverband verkünden, der Übergang von der Druckschrift zur Schreibschrift verschlinge mehr als hundert Stunden, und trotzdem seien die Schriften der Kinder danach nicht lesbar, empfehle ich dringend eine Fortbildung. Schreibmeister brauchen viel, viel weniger Zeit für diesen Unterricht. Bei guten Ergebnissen! Aber vielleicht meinen die beiden das auch nicht so ernst und unterstützen nur die Propaganda pro Grundschrift. Sie gehören schließlich zu Propagandatruppe des Grundschulverbandes.
Flüssig ist eine Handschrift, die den Fluss der Gedanken nicht stört, sondern ihnen dient, sie trägt und erkennbar sammelt und ordnet und ihnen einen angenehmen Auftritt gibt. Einfach schön eben!
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