uli hannemann, liebling der massen: Willkommen in Deutschlands erstem Schönwetterbahnhof
Das Aushängeschild jeder Stadt ist der Bahnhof: Die Erkenntnis setzt sich zunehmend durch, denn wo sich vormals Junkies und Trinker auf einem vollurinierten und düsteren Laufsteg der Logistik präsentierten, prägen heute glitzernde Einkaufszeilen das Bild. Aus schlichten Personenumschlagplätzen, die den Reisenden zur raschen Flucht nötigten, sind Orte zum Verweilen und Flanieren geworden; in der neuesten und höchsten Stufe der Entwicklung gar ein Platz der Besinnung, nur zum Angucken: Berlin Hauptbahnhof.
An wenigen Tagen des Jahres hat dieser erste reine Schönwetterbahnhof des Landes noch geöffnet. Das macht nichts, denn er ist extra groß gehalten, damit man ihn auch von weitem gut betrachten kann. Herrscht wirklich einmal absolute Windstille, darf das Areal sogar betreten werden.
Das wäre sonst zu gefährlich, weil die das fehldimensionierte Dach nur Pi mal Daumen oben draufgeschmissen haben. Hätte man es festgenagelt, wäre es nicht rechtzeitig zur Fußball-WM fertig geworden, und meistens hält es ja auch so; zumindest würde es das, wenn man die Seitenwände nicht ebenfalls nur locker gegeneinander gelehnt hätte – wie beim Dach übrigens, zusätzlich noch aus ästhetischen Motiven: Es ist nun mal die coolere Architektur, wenn alles nicht nur irgendwie verträumt freischwebend wirkt, sondern auch tatsächlich freischwebend ist. Da fällt zwar durchaus mal das eine oder andere Teil runter, wenn eine Brise geht oder ein Laster draußen vorbeifährt, aber das kann man ja fix wieder hochtun. Außerdem ist es nun mal ein Schönwetterbahnhof, und bei einem Cabrio klappt man ja auch im Sommer das Dach auf.
Scheint jedoch die Sonne und weht nicht das geringste Lüftchen, sammeln sich vor den Toren dieser stillen Kathedrale des ehemaligen Fernverkehrs längere Schlangen als vor dem benachbarten Reichstag. Höchstens zwanzig Personen werden auf einmal eingelassen – mehr wäre zu riskant, wegen der Erschütterung. Schließlich sind auch die Treppenstufen eher lose aneinandergestapelt.
Am Eingang werden die Schaulustigen untersucht – wer erkältet ist, wird abgewiesen. Zwar sind die als bloße Zierelemente gedachten Stahlträger, die wie Damoklesschwerter des Irrsinns sinnfrei in den Raum ragen, mittlerweile mit Tesafilm gesichert, doch man weiß ja nie: Wenn sich der Schall fortpflanzen sollte, von einem Husten, Niesen oder lauten Gespräch, könnte das einen fatalen Schneeballeffekt zur Folge haben.
Wer den Gesundheitscheck bestanden hat, erhält vom Sicherheitspersonal ein Paar Puschen ausgehändigt. Einmal zur Lärmvermeidung und dann, weil Gänge und Bahnsteige noch nicht trittfest sind – sonst wäre das „Kartenhaus“, wie es in Statikerkreisen scherzhaft genannt wird, im Leben nicht zur Fußball-WM fertig geworden. Das meiste ist ohnehin nur aus Styropor nachmodelliert – für einen Eindruck genügt das vollkommen.
Flüsternd schlurfen die behelmten Besucher unter der wachsamen Führung von Stefan, einem Extremsport-Guide, durch die zerbrechlichen Hallen. Früher gab es in Bahnhöfen allenfalls die Gefahr, den Zug zu verpassen oder in einem finsteren Winkel von Drogensüchtigen beraubt zu werden. Im Hauptbahnhof ist dagegen der Kitzel groß: Nur ein klitzekleiner Fehler wie ein heftiges Stolpern oder ein lautes Geräusch, und hier wäre Weltdominotag.
Die Reisenden in Sachen Risiko hangeln sich an einer Strickleiter – die Rolltreppen sind nur aus Pappe und mit Spucke befestigt – hinunter ins Allerheiligste: das Untergeschoss. Dort liegen Schienen im Schotter, nach schlampigen Augenmaß auf Stoß hintereinander gelegt, damit pünktlich zur WM Züge fahren konnten. Man versah die Räder zwar sicherheitshalber mit Puschen, dennoch grenzt es an ein Wunder, dass auf den komplett unbefestigten Gleisen kein Unglück passierte. Natürlich hat man von überflüssigen Beanspruchungen wie Zugverkehr längst die Finger gelassen – was war das nur für ein eitler und törichter Weg, Gott zu versuchen! Auch Fahrgäste kommen hier nicht mehr rein – die beschädigen nur die Bausubstanz.
Das alles erklärt Stefan seinen Gästen in Zeichensprache. Die nicken vehement. Zu vehement. Das hätten sie besser nicht tun sollen. ULI HANNEMANN
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