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Die Geschichte von nebenan

Das Buch „Im Wendland ist man der Wahrheit näher“ versammelt Reportagen aus vier Jahrzehnten über Lüchow-Dannenberg. Dabei wird viel reflektiert – und viel von dem benannt, was hinter den Ereignissen steht

An jenem frostigen Abend im November war Reinhard Stremmler klar, dass ihm ein besonderer Moment bevorsteht. Einer, um den ihn die Kollegen der überregionalen Medien beneiden werden, obwohl die auf einen wie Stremmler sonst mit wohlwollender Arroganz herabblicken. Stremmler war am 9. November 1989 Reporter der Elbe-Jeetzel-Zeitung, der Lokalzeitung für das Wendland. Im Fernsehen wurde gezeigt, wie die Menschen in Berlin auf der Mauer tanzten. Bei der Elbe-Jeetzel-Zeitung dachten sie sofort an den Grenzübergang Bergen, den Schlagbaum mitten im Nichts am Rande des Wendlands. Was dort in dieser Nacht geschah: ein traumhafter Aufmacher.

Also schlug sich Stremmler am Schlagbaum die Nacht um die Ohren. Anderntags schrieb er: „Mitternacht verstrich, die Uhr ging auf eins am Freitag, doch die zehn, zwanzig ‚Zaungäste‘ am Schlagbaum auf westlicher Seite harrten aus. Dann, 0:55 Uhr: Ein einzelnes Licht nähert sich von drüben. Da Zweiräder bislang von der DDR weder hinein- noch hinausgelassen wurden, wird es wohl eine Grenzstreife sein, glaubt man. Doch gefehlt: Ein Moped tuckert heran. Bruno Friedrichs, Schlosser aus Salzwedel, ist der erste DDR-Bürger, der über diesen Grenzübergang frei in den Westen überwechselt.“

Wie genau diese Fahrt für Bruno Friedrichs verlief, steht dann 1999 noch einmal in der Zeit. Geschrieben hat diesen Text Toralf Staud, und zwar so, als wäre er bei Friedrichs hinten auf dem Moped mitgefahren. Staud liefert auch Zahlen, wie viele DDR-Bürger wann die Grenze passiert haben in jener Nacht. Sie stimmen mit denen von Lokalreporter Stremmler überein.

Zu lesen sind beide Texte in dem Buch „Im Wendland ist man der Wahrheit näher“, eine Reportagensammlung, die zweierlei zeigt: Erstens, dass das Wendland mit seiner Geschichte ein besonderer Landstrich in Deutschland ist. Zweitens, dass die Besonderheit Journalisten nicht nur anzieht, sondern auch inspiriert. Denn der Großteil der fünfzehn Texte geht über die Reportage hinaus: Da wird viel reflektiert, von wendländischen Bräuchen berichtet und die Gegenwart kommentiert. Erschienen sind die Texte alle schon einmal in Zeitungen, Magazinen und Büchern.

Herausgeber Axel Kahrs ordnet die Beiträge vier Themenbereichen zu: Unter der Überschrift „Wendland – Endland“ geht es um jene Zeit, als das Wendland Zonenrandgebiet war, dünn besiedelt und regiert von einem Ministerpräsidenten, der dachte, die Wendländer würden sich über den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage freuen. Im Kapitel „Gorleben soll leben“ geht es um die Protestkultur der Anti-Atombewegung, im darauf folgenden Kapitel um die Wiedervereinigung. Zuletzt präsentiert das Buch Beiträge, die im Zusammenhang stehen mit dem Künstlerhof Schreyahn: Dort wohnten und wohnen Schriftsteller, die mitunter über das Wendland schrieben – oder über ihre Erlebnisse im Künstlerhof.

Immer scheint es für die Autoren im Wendland eine Geschichte hinter den Ereignissen zu geben, etwas, das sich nicht sofort auf den ersten Blick offenbart. Der Wahrheit näher ist hier niemand von vornherein, aber das genaue Hinschauen lohnt sich. „Hier bewacht sich die Zivilisation vor sich selbst“, schreiben beispielsweise Andreas Maier und Christine Büchner in Anbetracht der Polizeimacht, die vor dem Castor-Transport patrouilliert. „Hier geht niemand, als ginge er unter Freunden. Die Wendländer, denen von ihrer Sprache nur noch ein Gebet geblieben ist, wissen das.“ Klaus Irler

Axel Kahrs (Hrsg.): Im Wendland ist man der Wahrheit näher. Klassische Reportagen über Lüchow-Dannenberg aus vier Jahrzehnten. Verlag Alte Jeetzel-Buchhandlung, 12,90 Euro

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