: Die fremde Vergangenheit
Amnesie (1): In ihrer Doku „Mann ohne Erinnerung“ (22.30 Uhr, WDR) decken Petra Dorrmann und André Schäfer behutsam die Missbrauchsgeschichte hinter einem Fall von Gedächtnisverlust auf
Eines Tages taucht Jonathan am Hamburger Hauptbahnhof auf. Er weiß nicht, woher er kommt, wohin er will, hat keine Erinnerung an sein Leben. Mit Hilfe von Ärzten, Psychologen und Amnesieexperten versucht der Mittfünfziger, seine Vergangenheit zu finden. Ein Hirnforscher erklärt, dass Jonathans Gedächtnisverlust sich mit einem Unfall, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch erklären lässt. Doch woran liegt es dann?
Amnesien sind Kino- und Literaturstoff, Bourne-Identitäten-Thriller, Martin-Suter-Bestseller. Petra Dorrmanns und André Schäfers sensible Reportage erzählt eine ganz andere, viel grausamere und viel merkwürdigere Geschichte. An der Seite von Jonathan entdecken die AutorInnen Ungereimtheiten in seiner Suche, Zwielichtiges, Unglaubwürdiges: War Jonathan spielsüchtig? Hat er eine langjährige Lebensgefährtin und unzählige Gläubiger, Arbeitgeber und Kollegen um Geld geprellt? Er selber kann sich – natürlich – nicht erinnern, weicht aus, versucht zu manipulieren, scheint zu schwimmen, hinterlässt mit vielen O-Tönen ein komisches Gefühl beim Zuschauer – was weiß er wirklich noch, was verdrängt und verschweigt der gutaussehende Weißhaarige absichtlich?
Wahr und durch Zeugen und Papiere belegt ist, dass er in Heimen groß geworden ist, in den 50ern und 60ern, als die pädagogischen Leitlinien dieser Einrichtungen sich vor allem auf Zucht und Ordnung gründeten, als man aufmüpfiges Jungvolk – auch mit Gewalt – unterkriegen und brechen wollte. In einer Pflegefamilie gingen die Missbrauchserfahrungen weiter. Und das ist das eigentliche Geheimnis, der eigentliche Skandal, den der konzentrierte, vorsichtige Film den Zuschauer alleine aufdecken lässt: Egal, was Jonathan bewusst für sich behält, seine Kindheit und Jugend waren ein Martyrium unter den Augen und mit Billigung des Staates.
Der Film erhebt diese Anklage, ohne laut zu werden, und bleibt dabei immer an seiner seltsam zweischneidigen Hauptfigur dran. Die AutorInnen setzen auf das Interesse und das Mitgefühl der ZuschauerInnen – sie kommentieren nicht, sie regen an. Auch wenn am Ende Jonathans Erinnerung bruchstückhaft bleibt, auch wenn man nach wie vor nicht weiß, was man ihm glauben kann, die späte und nötige Enthüllung eines Verbrechens an Waisen- und Heimkindern ist gelungen.
Bei Jonathan scheinen die grässlichen Erfahrungen eine Amnesie hervorgerufen zu haben, mit der er sich vor dem Rückblick schützt. In einer der bewegendsten Szenen trifft er nach 40 Jahren auf die Pflegemutter, unter deren Dach er – laut Aussage eines Pflegebruders – schlimmster Gewalt ausgesetzt war. Die nette ondulierte Oma, die ihrem verwirrten Ex-Zögling Kaffee und Kuchen serviert, kann sich an so etwas mit keinem Gedanken erinnern. Auch TäterInnen verdrängen eben ungewollte Bilder. JENNI ZYLKA
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