: Hamas–Scheich macht Arafat Konkurrenz
Scheich Jassin wird in arabischen Ländern empfangen, als wäre er Staatschef. Jetzt werden in Israel Stimmen laut, die den Führer der islamistischen Hamas nicht mehr nach Palästina einreisen lassen wollen ■ Aus Jerusalem Georg Baltissen
Scheich Ahmed Jassin, der geistige Führer von Hamas, soll morgen nach Gaza zurückkehren – falls es ihm die israelische Regierung erlaubt. Denn der Scheich hat auf seiner dreimonatigen Rundreise durch verschiedene arabische Länder und nach israelischen Angaben rund 300 Millionen Dollar für Hamas gesammelt. Das ist fast die Hälfte des Budgets der palästinensischen Autonomiebehörde für 1998.
In Saudi-Arabien durfte Jassin an der Seite des Kronprinzen Platz nehmen, und in Kuwait und Bahrain empfingen ihn Emire und Sultane, die auch sieben Jahre nach dem Golfkrieg Palästinenserpräsident Arafat immer noch die kalte Schulter zeigen. Seit acht Jahren sind die Zahlungen der Golfstaaten an die PLO eingefroren, weil Arafat damals den Irak unterstützte und damit seine Organisation in eine finanzielle Krise stürzte, die derzeit nur teilweise von europäischen Zahlungen aufgefangen wird.
Der Scheich hat bei seinen Besuchen in Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, den Emiraten, Syrien, Sudan und Ägypten das Bild eines Staatsmannes vermittelt, der in direkter Konkurrenz zu Jassir Arafat steht. In Jordanien allerdings war er nicht willkommen. König Hussein verweigerte ihm die Einreise. Hamas wird sein Hauptquartier deshalb in den kommenden Wochen nach Syrien verlegen. Selbst der Iran, der verdächtigt wird, Hamas finanziell und politisch zu unterstützen, wollte den Scheich nicht einreisen lassen. Regierungschef Chatami mochte wohl die zögerliche Entspannung im Verhältnis mit den USA nichts aufs Spiel setzen.
Offiziell erhielt der halb blinde und gelähmte Scheich Jassin von der israelischen Regierung eine Ausreisegenehmigung, um sich im Ausland behandeln zu lassen. Doch nicht jeder traute dieser Begründung. „Ich weiß nicht, warum Israel den Scheich hat ausreisen lassen“, sagte Brigadegeneral Yigal Pressler gegenüber der Jerusalem Post. „Ich habe keinen Zweifel daran, daß die gesammelten Gelder genutzt werden, um uns anzugreifen und den militärischen Arm von Hamas zu stärken.“ Dem Scheich sollte deshalb die Rückkehr nach Gaza verboten werden. Doch nicht nur Israels Sicherheitsorgane, sondern auch Universitätsexperten widersprechen dieser Einschätzung.
Es sei besser, Scheich Jassin unter die Kontrolle Arafats in Gaza zu stellen, als ihn zum „Märtyrer von Hamas“ zu machen. Letzteres würde sofort Anschläge von Hamas zur Folge haben, argumentiert Ariel Merari, Chef des Zentrums für Politische Gewalt an der Universität Tel Aviv. Er sagt einen heftigen Konkurrenzkampf zwischen Hamas im Innern und der wesentlich radikaleren Auslandsführung voraus. Die Reise von Scheich Jassin habe auch dazu gedient, die Finanzen der pragmatischeren Inlandsführung zu stärken. Deshalb gebe es keinen Grund, dem Hamas-Führer die Rückkehr zu verweigern.
Ungeachtet dessen ist Jassins Prognose für das nächste Vierteljahrhundert ebenso kompromißlos wie eindeutig. Der jüdische Staat, so sagt er, werde vom palästinensischen Boden verschwinden. Hamas, so fügt er hinzu, werde den Kampf fortsetzen, „bis zur Befreiung ganz Palästinas“. Ein möglicher Teilrückzug israelischer Truppen werde deshalb die Selbstmordaktionen nicht stoppen.
Es gibt keinen Zweifel daran, daß Hamas gegenüber der PLO und der Autonomiebehörde in den vergangenen Monaten an Boden gewonnen hat. Die diplomatischen Töne von Scheich Jassin gegenüber Arafat können nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Organisation längst zum entscheidenden Kontrahenten für die PLO geworden ist. Der staatsmännische Empfang Jassins in der arabischen Welt deutet auf eine Neubewertung von Hamas hin.
Professor Shaul Mishal von der Universität Tel Aviv und Buchautor über Hamas, sagt, daß Scheich Jassin einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung repräsentiere und deshalb nicht einfach ignoriert werden könne, denn „am Ende wird Israel mit ihm oder anderen Hamas-Vertretern verhandeln müssen“. Wenn der israelische Ministerpräsident Netanjahu hart und und Palästinenserführer Arafat erfolglos bleibt, könnte Hamas schon in naher Zukunft an die Stelle der PLO treten.
Unabhängig davon, ob Scheich Jassin nun nach Gaza zurückkehren kann oder nicht, hat Hamas in der palästinensischen Gesellschaft den Vorteil, als integre und nicht korrupte Organisation zu gelten, ein Privileg, das einst der PLO zukam. Wenn die islamische Organisation dieses Image behalten kann, wird Netanjahu ein Gegner erwachsen, der sich von Rhetorik und ausweichenden Sprüchen nicht mehr über den Tisch ziehen lassen wird. Dann wird der Kampf zwischen islamischen Fundamentalisten und zionistischen Revisionisten ausgefochten. Und das war in Palästina immer ein Kampf auf Leben und Tod, ohne Raum für Kompromisse.
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