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"Chile" ersetzt die Schule

■ Im verschlafenen Nest Clapiers, wo sich das Quartier der Fußballer aus Paraguay befindet, ist die Welt ein bißchen aus den Fugen geraten

Clapiers (taz) – Vor den Toren der „Résidence Les Pins“ lungern die Burschen des Dorfes herum, kicken gelangweilt gegen den Ball und schauen aufgeregt auf jedes Fahrzeug, das sich nähert. Hineinkommen ist unmöglich, das Quartier von Paraguays Fußballern wird wie eine Festung bewacht. Eine Festung, die sich freilich ab und an öffnet. Zum Beispiel, wenn Coach Carpeggiani seine Herrschaften zum Training bittet auf dem Rasenplatz der Gemeinde. Dann kommen auch die Jungs von Clapiers auf ihre Kosten. Zwar kennen sie kaum einen der südamerikanischen Kicker, aber von einem haben sie auch im Niemandsland des Hérault gehört. „Chila, Chila“ rufen sie – und José Luís Chilavert, der Torhüter Paraguays, dankt es ihnen mit Winken und Klatschen. Nach dem Training gibt er Autogramme und stellt sich zu Fotos mit seinen französischen Verehrern parat.

So etwas tut der lebende Kleiderschrank, der 93 Kilogramm auf 188 Zentimeter Körperlänge verteilt, nicht immer. Als ihn zu Hause einmal der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Oviedo für Propagandazwecke benutzen wollte, entledigte er sich dieser Angelegenheit mit einer saftigen Ohrfeige. Überhaupt ist Chilavert oft gut für eine handfeste Schlägerei. Dem Kolumbianer Asprilla schlug er mal auf die Nase, einen mißliebigen Reporter streckte er zu Boden. Damit er sich auf das Wesentliche konzentrieren kann, redet Chilavert in Frankreich nicht mit Journalisten aus der Heimat. Das Wesentliche ist für ihn nicht nur das Verhindern von Gegentoren. Er will selbst das erste WM- Tor eines Torhüters erzielen“. 41 Tore hat Chilavert bislang geschossen, wenn er auf seiner Internet- Homepage nicht schwindelt.

Heute nun wird es ernst für Paraguay. In Montpellier spielen die Südamerikaner gegen Bulgarien. Nicht weit davon entfernt drücken junge Burschen einem Monsieur Chilavert die Daumen. „Der Mann ist große Klasse“, sagt einer von ihnen. Schule war wieder nicht an diesem Tag. Die Welt in Clapiers ist eben ein wenig aus den Fugen geraten. Ralf Mittmann

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