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Ein Kandidat, der schon Kanzler ist

Gerhard Schröder wirkt im Wahlkampf so locker und natürlich, als habe sich sein Traum von der Kanzlerschaft bereits erfüllt. Und dabei muß er nicht einmal besonders gut sein  ■ Von Markus Franz

Gerhard Schröder ist fasziniert. Mit herzlicher Zuneigung schaut er die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt an, die bei einer gemeinsamen Kundgebung in Chemnitz eine Rede hält. Eindringlich beschreibt sie die Maßnahmen einer SPD-Regierung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit: 35-Stunden-Woche, Abbau der Überstunden, Abschaffung der 620-Mark-Jobs. Anhand einer Drei-Säulen-Theorie erklärt sie, warum die Wähler ja nicht PDS, sondern „bitte die SPD oder die Grünen“ wählen sollen. Weil es sonst keinen Politikwechsel gebe. „Habe ich das verständlich ausgedrückt?“ fleht Hildebrandt. Tausende antworten ihr mit einem andächtigen „Jaaaah“.

Auch Schröder hat verstanden. „Für mich ist der Tag gelaufen“, sagt er. „Ich habe begriffen, wie das mit den Säulen funktioniert. Vielen Dank, liebe Regine, für den Schnelluntericht in Wahlarithmetik.“ Schröder hat verstanden, daß es keine Rolle spielt, daß die Vorschläge seiner Vorrednerin nicht seinen Überzeugungen entsprechen. Nach deren Rede sind sowieso alle im Saal bereit, SPD zu wählen. Es kommt nur noch darauf an, den richtigen Eindruck zu schaffen: Wer Gerhard Schröder wählt, wählt auch Regine Hildebrandt.

Nicht, daß der Kanzlerkandidat der SPD auf Wahlkampfreisen mal dieses und mal jenes sagt. Aber er muß ja nicht immer alles sagen. Und so läßt er natürlich in Chemnitz nicht durchblicken, was er einige Stunden zuvor bei seinem Besuch der erfolgreichen Autozuliefererfirma Sachsenring in Zwickau vor der versammelten Belegschaft gesagt hat. Auf die Bitte des Chefs, sich für längere Arbeitszeiten in den Betrieben einzusetzen, erwidert Schröder: „Einigen Sie sich mit Ihrer Belegschaft. Dann geht das schon in Ordnung.“

Gerhard Schröder befindet sich ständig im Spagat. Zwischen seinem Ruf als Automann und der Betonung seiner Herkunft als Sohn einer Kriegerwitwe, die ihre fünf Kinder als Putzfrau durchbrachte. Zwischen den zwei Säulen seiner Wahlkampagne: „soziale Gerechtigkeit“ und „ökonomische Vernunft“. Zwischen den Vorgaben von Parteichef Oskar Lafontaine und dem Anspruch, als künftiger Kanzler Richtlinienkompetenz zu besitzen. Zwischen dem Wunsch, einfach „der Gerd“ zu sein, und der Erwartung an die Ausstrahlung eines künftigen Kanzlers.

Auf Großveranstaltungen vor überwiegend SPD-Anhängern betont er immer wieder seine soziale Herkunft. Es heiße ja, er sei der Genosse der Bosse, sagt er dann. „Aber ich weiß, wo ich herkomme, also weiß ich, wo ich hingehe.“ Erst in den letzten Monaten hat er gelernt, die Glaubwürdigkeit seiner Forderungen aus seiner eigenen Geschichte heraus zu untermauern. So etwa, wenn er erzählt, daß ihm seine Mutter nicht das Geld für Bücher und das Fahrgeld für den Weg zur höheren Schule bezahlen konnte, und er daraus folgert: „Ich werde es nie zulassen, daß die Frage, ob jemand aufgrund von Bildung bessere Lebenschancen als jemand anderes erhält, von Mamas oder Papas Geldbeutel abhängt.“

Gegenüber der eher wirtschaftsnahen Klientel spielt Schröder dagegen die Karte als wirtschaftsfreundlicher Macher aus. Die Automobilindustrie, sagt er selbst, mache sich wegen eines Kanzlers Schröder keine Sorgen. Schließlich sei dann ein „Automann“ an der Spitze. „Die schätzen Verläßlichkeit.“ Die Chefs von Sachsenring loben jedenfalls Schröders „erstaunliche Sachkenntnis“, rühmen das „sympathische Zusammentreffen“ und würdigen, daß Schröder dafür stehe, die SPD vom Image als „Arbeiterpartei zu lösen“. Bei einer Veranstaltung in Nürnberg steht auf einem Plakat: „Willy Brandt: Mehr Demokratie wagen. Gerhard Schröder: Mehr Volkswagen.“

Souverän geht Schröder mit dem für manchen schwer zu vereinbarenden Begriffspaar Gerechtigkeit und ökonomische Vernunft um. Während Lafontaine, wie auf einer Kundgebung in München, ausschließlich von Gerechtigkeit spricht, nennt Schröder beide Begriffe ständig in einem Atemzug. Daß 1982 noch 35 Prozent der Studierenden Arbeiterkinder waren und heute nur noch 17 Prozent, hält er nicht nur für ungerecht, sondern auch aus ökonomischen Gründen für unverantwortlich, weil damit das Kapital kluger Köpfe verschleudert werde. Die Steuerreform, bei der vor allem die Familien entlastet werden sollen, findet er nicht nur gerecht, sondern auch wirtschaftlich vernünftig, weil dadurch die Binnennachfrage angekurbelt wird. Auf diese Weise können alle zufrieden sein.

Wer glaubt, Schröder bete die Argumentation von Lafontaine nach, höhere Löhne führten zu mehr Kaufkraft und damit zu mehr Wirtschaftswachstum, muß sich eines Besseren belehren lassen. Schröder achtet peinlich darauf, daß er das Kaufkraftargument nur im Zusammenhang mit der Steuerreform und nicht mit höheren Löhnen verbindet. Die Wirtschaft kann beruhigt sein: Nicht in allem, wo Lafontaine draufsteht, ist Schröder drin.

„Jesus liebt Sie, Herr Schröder“ steht auf einem Plakat. Einiges hat Schröder von Lafontaine teilweise wortgleich übernommen: Etwa die Kritik an der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und an der Rentenreform. Wie Lafontaine spricht auch er nun davon, daß es „unanständig“ sei, die Renten von Frauen zu kürzen, die ohnehin nur 900 Mark bekommen würden.

In einem Punkt ist er aber unerbittlich: wenn es um die Glaubwürdigkeit seiner Innovationspolitik geht. So verkündet er zum Kummer seiner Partei in Interviews, daß Ostseeautobahn und Transrapid unter seiner Kanzlerschaft gebaut würden. Was habe er schon für eine andere Wahl, argumentiert er: Wenn die Sozialdemokraten den Ausstieg aus der Kernkraft wollten und dann auch noch den Transrapid blockierten, breche doch das gesamte Konzept Modernisierung zusammen. Ein willkommener Nebenaspekt dabei: Er hat den Grünen mal wieder gezeigt, wer der Koch und wer der Kellner ist. Damit will er der Angst vor einer rot-grünen Regierung vorbauen. Zur Zeit scheint Schröder sein Spagat zu gelingen. Er wirkt so locker und natürlich, als habe er sich den Traum von der Kanzlerschaft bereits erfüllt. Immer ist er für einen Scherz gut und spielt gelassen mit den Vorurteilen gegen ihn. Den Job des Bundestrainers werde er nicht annehmen, sagt er etwa, „obwohl ich mich ja sonst immer um jedes freie Amt bewerbe“. Durch kleine Gesten erzeugt er Sympathie. Ob er die bayerische SPD-Vorsitzende Renate Schmidt als „phantastische Kämpferin“ rühmt, die ihm unheimlichen Respekt abnötige, was ihm mit den größten Applaus seiner Rede einbringt, oder ob er sich im Zugrestaurant mitten im Satz unterbricht, um der erfreuten Kellnerin zu sagen: „Danke, war gut.“

Und so ist es kein Zufall, daß er anders als Lafontaine nie sagt: „Kohl muß weg“, sondern immer nur: „Danke Helmut, es reicht.“ Am glaubwürdigsten wirkt der Kanzlerkandidat der SPD in seinem Wesen.

Aber vielleicht kommt es nicht einmal darauf an. Als Schröder seine Rede in Nürnberg nach großem Einsatz beendet, rufen die Zuhörer nicht „Schröder! Schröder!“, sondern „Kohl muß weg, Kohl muß weg!“ Schröder muß nicht einmal besonders gut sein. Er darf nur keine Fehler machen.

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