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Stecken, Stab und Stengel

Wenn es Hunde und Katzen regnet und Frauen Bananenbäume sind, ist bestimmt Fasching in Dünkirchen: Thomas Vincents prosaischer Wettbewerbsfilm „Karnaval“  ■ Von Petra Welzel

Weißt Du, als was die Männer verkleidet sind? Als Erdbeeren. Und die Frauen sind Bananenbäume!“ Die kleine Emilie sitzt mit der Oma am Frühstückstisch und erzählt ihrer gerade erst nach Hause gekommenen Mama, wie sie mit ihren Puppen Karneval gefeiert hat. „Hast du die ganze Nacht Karneval gefeiert?“, fragt die Tochter strahlend. „Ja, meine Süße“, antwortet ihr die Mutter und sieht dabei aus wie ausgekotzt.

Bleich ist sie, die aufgemalten Sommersprossen und roten Wangen sind verschmiert. Fasching, Dünkirchen 1998. Vielleicht hätte Bea besser nicht mitgehen sollen. Die ersten Bilder des französischen Wettbewerbsbeitrags „Karnaval“ sind schwarzweiß und geben einen Vorgeschmack auf die Tristesse, die einen erwartet: Hinter einer Düne sieht man zunächst nur drei kleine, schwarzweiße Regenschirme an langen Stielen, bis auch ihre Träger die Düne erklommen haben und auf die Strandpromenade einbiegen. Es sind drei Männer im Afrolook mit Medizinmännermasken und in Baströckchen. Und sie singen ein Lied: Auszeit meine Damen, heute ist Karneval, das ist ein Tag für die Männer. Bea ist trotzdem mitgegangen, und vielleicht zu weit gegangen.

Dünkirchen, oder Dunkerque, wie es im Französischen heißt, ist, wenn man Historiker fragt, der Ort, an dem Hitler während der Westoffensive in Flandern 1940 bereits den 2. Weltkrieg verloren hat, als er seine Truppe abziehen ließ und den Franzosen und Engländern den Seeweg damit offenhielt. Profitiert hat Dunkerque davon nicht. Kein Kriegstourismus, nicht einmal zum dreitägigen Fasching kommen Touristen, obwohl es nur so knallt vor schrillen Drag Queens. Einmal im Jahr ziehen die Männer die Kleider an, ihre Eier und Schwänze tragen sie plastisch, in Wolle gepackt, an ihren bimmelnden Stecken und Stäben nur wenig damenhaft grölend herum.

Doch heute ist die Industriestadt so trostlos grau und von hoher Arbeitslosigkeit betroffen wie eine mittelenglische Bergarbeiterstadt. Ständig regnet es, und so wie etwa in „Brassed Off“ nur noch die Ortskapelle Anlaß zur Hoffnung gibt, ist es in Dunkerque der winterliche Karneval.

Nur für Bea nicht mehr und erst recht nicht für Labir, den Araber. Am ersten Tag des Karnevals hat er seinen Job geschmissen und will nach Marseille, wegen der Sonne. Aber den erstbesten Zug verpaßt er, und der nächste geht erst am folgenden Tag. So streunt er durch die Stadt und landet mitten im Karneval, als er vor dem Regen ins Treppenhaus von Bea und Christian flüchtet. Die hat ziemliche Mühe, ihren Mann, der voll wie eine Haubitze ist, die Treppen hochzuschaffen. Also hilft ihr Labir. Und als Christian von BH und Röcken befreit im Bett verfrachtet ist, fällt der erste Kuß zwischen Bea und Labir.

Und eine Mine unerfüllter Gefühle ist losgetreten und droht jeden Moment zu explodieren. Labir ist Feuer und Flamme, Christian tobt vor Eifersucht, als der am nächsten Morgen wieder vor der Tür steht und zu seiner „Queen Bea“ will. Und Bea: Ist zunächst verliebt wie ein Schulmädchen und spielt die Jeanne d'Arc auf den Schultern Labirs. Am Ende bleibt's ein Ausbruchsversuch, hat sie nur genascht an einer Erdbeere.

Dem Regisseur Thomas Vincent und vor allem seiner Hauptdarstellerin Sylvie Testud ist es auf eine geradezu prosaische Art gelungen, die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern in Bildern zu erzählen, die ebenso zwischen dem ganz großen Gefühl und dem nicht ausbleibenden tiefen Fall pendeln. Hier das exzessive Feiern, Saufen und Lieben, dort das nüchterne Erwachen, wenn es wieder Hunde und Katzen regnet.

„Karnaval“ Regie: Thomas Vincent. Mit Amar Ben Abdallah, Sylvie Testud, Clovis Cornillac, F, 90 Min. Heute: 9.30 Uhr Royal Palast, 18.30 Uhr Urania, 22.30 International

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