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Nordkoreaner üben das Leben im Kapitalismus

■ Süd-Korea eröffnet das erste Lager für Nordkoreaner. Deutschland stand Pate

Ansong (taz) – Ein hoher Zaun mit schimmerndem Stacheldraht umgibt Süd-Koreas erstes Lager für nordkoreanische Flüchtlinge. „Der Zaun schützt sie vor Racheakten nordkoreanischer Agenten“, erklärte gestern der Vizeminister für Wiedervereinigung, Yang Young-Shik, als er den 18 Millionen Mark teuren Komplex 90 Kilometer südlich von Seoul eröffnete. Die Regierung erwartet, daß wie in den vergangenen Jahren immer mehr Nordkoreaner über China in den Süden fliehen. Im Lager will sie die Flüchtlinge gesammelt umerziehen. Die Gefahr von Anschlägen ist real. Nord-Koreas Agenten haben bereits mehrfach im Süden untergetauchte Landsleute getötet.

Verglichen mit deutschen Flüchtlingsheimen sind die großen Backsteingebäude am Rande der Stadt Ansong, die 200 Menschen Platz bieten, sehr komfortabel eingerichtet. Es gibt modernste Computerschulungsräume, einen Fitneßraum und sogar einen Tennisplatz. Doch das Gelände ist mit Wachtürmen und Stacheldraht gesichert wie eine Festung. Kritiker vergleichen das Lager deshalb mit einem Gefängnis. Süd-Koreas Geheimdienst überprüft jeden Neuankömmling aus dem Norden, um kommunistische Agenten auszusondern. Noch nach Jahren werden die Flüchtlinge überwacht. Bisher brachte man sie nach ihrer Ankunft in geheime Wohnungen, aus denen sie nach einem Jahr in relative Freiheit entlassen wurden.

„Wie lange ich hier bleibe, weiß ich noch nicht“, sagte ein Lagerbewohner, der im März per Schiff in den Süden gelangte. Namen und Herkunftsort mochte er nicht nennen, um seine Familie im Norden nicht zu gefährden. Die Entscheidung über seine Aufenthaltsdauer liege nicht bei ihm, räumte er ein. „Wenn ich das Lager verlasse, möchte ich mit Computern und Elektronik arbeiten. So etwas gibt es in Nord-Korea nicht.“

Ein anderer Flüchtling berichtete, der Aufenthalt in dem Lager habe mit einem dreimonatigen Anpassungs- und Sozialtraining begonnen, dem ein achtmonatiges Berufstraining folge. Die Flüchtlinge lernen zunächst Selbstverständlichkeiten des südkoreanischen Alltags wie die Systematik des U-Bahn-Netzes von Seoul, das Eröffnen eines Kontos, die Benutzung von Geldautomaten. Lehrer vermitteln ihnen ein Bild der südkoreanischen Gesellschaft, das ihrem bisherigen Wissen vollkommen widerspricht. Psychologische Betreuung ist notwendig. Schuldgefühle gegenüber den zurückgelassenen Familien seien ein großes Problem, sagte Vizeminister Yang: „Die Erfahrung zeigt, daß viele sehr religiös werden. Es hilft ihnen, den inneren Konflikt zu ertragen.“

Die gestrige Willkommensszeremonie in Ansong deckte sich nicht mit den Erlebnissen vieler Nordkoreaner, die in die Gesellschaft des Südens wollen. Gerhard Michels, Vertreter der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in Seoul, kennt die Probleme der Flüchtlinge aus eigenen Kontakten: „Man begegnet ihnen vielfach mit Mißtrauen, vermutet in ihnen Spione. Kaum eine Familie würde es begrüßen, wollte ihre Tochter einen Nord-Koreaner heiraten.“ Oft, so Michels, müßten sich Flüchtlinge sogar den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten ihr Land, also Nord-Korea, verraten. Michels versuchte erfolglos, auf die Gestaltung des Lagers Ansong Einfluß zu nehmen: „Ich und einige andere hier waren dafür, die Flüchtlinge nicht zu isolieren, sondern sie in Familien unterzubringen.“ Pate stand zum Teil das deutsche zentrale Aufnahmelager Gießen. Viele Seminare seien nach deutschem Muster entworfen worden, berichtete ein koreanischer Präsidialbeamter.

Die Flüchtlingszahlen in Süd-Korea sind im Vergleich zu Deutschland minimal – 60 bis 70 im Jahr. Die meisten Flüchtlinge, 100.000 nach Schätzung des Ministeriums für Wiedervereinigung, sitzen im chinesisch-nordkoreanischen Grenzgebiet fest. Sie schweben in ständiger Gefahr, von chinesischer Polizei oder nordkoreanischen Agenten entdeckt und nach Nord-Korea abgeschoben zu werden. Christian Schaudwet

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