■ Kosovo: Es gibt keine Hinweise auf ein massenhaftes, systematisches Töten von Kosovo-Albanern. Das jedenfalls behaupten das US-amerikanische Stratfor-Institut und spanische Pathologen, die im Auftrag des Kriegsverbrechertribunals Gräber untersuchten: Das Wort Völkermord missbraucht?
Am 14. September kehrte ein Team von 17 Ärzten nach Spanien zurück. Die Pathologie-Experten kamen aus Istok im Norden des Kosovo. Dort hatten sie seit dem 10. August im Auftrag des Internationalen Kriegsverbrechertribunals der UN für Ex-Jugoslawien (ICTY) gerichtsmedizinische Untersuchungen durchgeführt. Sie haben an Orten gearbeitet, die auf Grund von Berichten kosovo-albanischer Flüchtlinge vom Tribunal als mögliche Massengräber eingestuft worden waren.
„Wir sind mit Material zur Autopsie von 2.000 Personen aufgebrochen und hatten mit einem Aufenthalt bis mindestens Ende November gerechnet“, berichtete Inspektor Juan Lopez Palafox, der normalerweise für die Antrophologie-Abteilung der Polizei-Akademie in Madrid verantwortlich ist, der Tageszeitung El Pais. „Gefunden haben wir 187 Tote.“
Teamchef Emilio Perez Pujol, Leiter des Anatomie und Gerichtsmedizin-Instituts (IAF) in Cartagena fügte wenig später gegenüber der Zeitung ABC hinzu: „Nur einmal fanden wir 97 Tote an einer Stelle, auf einem Friedhof. Sie wiesen keine Zeichen von Folter oder Verstümmelung auf – eher von Kugeln und Granatsplittern.“ Wegen der Unterschiedlichkeit der Verletzungen lässt sich nach Ansicht der Pathologen nicht eindeutig sagen, ob es sich um ein Massengrab von Opfern ethnischer Säuberung handelt. An anderen, zuvor als mögliche Massengräber bezeichneten Orten habe das Team höchstens acht, manchmal auch gar keine Leichen gefunden.
Weder Inspektor Lopez noch IAF-Direktor Pujol bezweifeln, dass im Kosovo grauenhafte Menschenrechtsverletzungen, ethnische Verfolgungen und Erschießungen stattgefunden haben. Nur unzweifelhafte Belege für einen Völkermord hätten sie nicht gefunden „In Ruanda haben wir einmal 450 Leichen von Frauen und Kindern an einer Stelle gefunden – alle mit eingeschlagenen Schädeln“, so Palafox. „Hier wurden sicher auch Verbrechen begangen – aber die hingen mit dem Krieg zusammen.“ Pujol geht, hochgerechnet von den Funden seines Teams, von insgesamt 2.500 Toten im Kosovo aus – Albaner, Serben und Opfer der Nato-Bomben.
Pujols Angaben sind nicht die einzigen Hinweise, dass der Völkermord so, wie die Politiker des Nato-Bündnisses ihn in der Öffentlichkeit darstellten, nicht stattgefunden hat. Seit Kriegsende haben 20 Suchteams mit rund 500 Experten 2.108 Tote gefunden und untersucht – an 195 von insgesamt 529 vom Tribunal als mögliche Fundorte klassifizierten Stellen. Das Tribunal hat die Zahl der bisher gefundenen Toten hochgerechnet. Sie kommen auf 4.256 Opfern, berichtete Chefanklägerin Carla Del Ponte am 10. November dem UN-Sicherheitsrat.
Die verbliebenen 334 möglichen Gräber sollen nach Ende des Winters untersucht werden, so die Schweizerin Del Ponte weiter. Das Tribunal gehe bis dahin von insgesamt 11.334 Opfern aus – Albaner und Serben, Militärs und Zivilisten. Es sei jedoch nicht sicher, ob diese Zahl bestätigt werden könne.
Denn die Ermittler untersuchten bereits in diesem Jahr mehrere Orte, an denen das Tribunal Massengräber vermutetet hatte, wo keine Toten zu finden waren. Am 11. Oktober etwa schlossen UN-Mitarbeiter die Untersuchung der Minen von Trepca ab. Zeugen hatten zuvor berichtet, in dem Bergwerkskomplex in der Nähe der Grenze des Kosovo zu Serbien hätten serbische Truppen mindestens 700 Leichen verschwinden lassen. Die Ermittler des Kriegsverbrechertribunals fanden keinerlei Spuren. Dass die Toten von serbischen Truppen an andere Orte umgebettet sein könnten, schließen sie aus. „Wir hätten zumindest Blut- oder Fahrzeugspuren finden müssen“, sagte ein US-amerikanischer Mitarbeiter des Tribunals dem Stratfor-Institut.
Stratfor fragt nun: „Where are the Killing Fields?“
Am 17. Oktober hatte Stratfor, ein Informations- und Analysepool auf einer Internet-Seite (stratfor.com) einen Bericht mit dem Titel „Where are the Kosovo Killing Fields?“ veröffentlicht. Hinter dem Kürzel Stratfor steht Strategic Forecasting Inc., eine Firma von Sozialwissenschaftlern, Rechercheuren und ehemaligen Geheimdienst-Mitarbeitern in Texas. Laut der Neuen Zürcher Zeitung handelt es sich um eine der besten Informationsquellen im Internet. Paul Risley, der Pressesprecher des UN-Kriegsverbrechertribunals, schätzt Stratfor dagegen als unseriös ein (siehe Interview).
Der Stratfor-Bericht beruht auf Informationen sowohl des UN-Tribunals als auch anderer westlicher Institutionen wie der OSZE oder der KFOR sowie auf Medienberichten. Stratfor-Direktor George Friedmann kam am 5. November im ehemaligen US-Propagandasender Radio Free Europe – Radio Liberty zu dem Ergebnis: „Sicher ist, dass im Kosovo Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie die Vertreibung von Albanern, begangen wurden. Aber gleichzeitig müssen wir aus den Daten schließen, dass es nicht zu einem massenhaften, systematischen Töten gekommen ist.“
Als Beispiel führt Friedman unter anderem die Ergebnisse der beiden Tribunal-Teams aus den USA an. Die Ermittler, zum größten Teil Mitarbeiter des FBI, hätten bei zwei Besuchen im britischen Sektor des Kosovo insgesamt 200 Tote gefunden – an 30 verschiedenen Stellen. Weiter heißt es, viele mutmaßliche Massengräber hätten sich bei näherer Untersuchung als Einzelgräber erwiesen. An einer Stelle unweit eines Kampfgebietes bei Ljubenic in der Nähe von Pec, wo 350 Leichen vermutet wurden, wären die Ermittler auf sieben Tote in sieben nebeneinander liegenden Gräbern gestoßen. Und in Pusto Selo, wo 106 Menschen an einer Stelle begraben worden sein sollten, sei nichts gefunden worden.
Die Angaben von Strafor und der spanischen Pathologen unterscheiden sich wesentlich von offiziellen westlichen Quellen. Das US-Außenministerium etwa berichtete am 19. April, es bestehe akute Lebensgefahr für eine halbe Million Kosovo-Albaner. Knapp einen Monat später, am 16. Mai, sagte US-Verteidigungsminister William Cohen der Fernsehstation CBS, 100.000 Kosovo-Albaner schwebten im Süden Serbiens in Lebensgefahr. Während des Krieges bezifferte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Zahl der albanischen Opfer auf 44.000. Der britische Verteidigungsminister Georff Hoon schließlich schätzte drei Tage vor dem offiziellen Kriegsende am 20. Juni die Zahl der getöteten Albaner auf 10.000.
Obwohl, wie die Aussagen zeigen, die Zahlen nach unten korrigiert wurden, hieß es am 14. Oktober vom US-Verteidigungsministerium, die Nato-Angriffe hätten als Reaktion auf „eine brutale ethnische Säuberungskampagne des jugoslawischen Präsidenten Miloševic“ begonnen, „deren Ziel es war, die Krise durch die Vertreibung und Ermordung der ethnischen Albaner zu lösen“. Die Nato hat also eingegriffen, um einem Völkermord Einhalt zu gebieten.
Wurden überhöhte Opferzahlen von den Nato-Staaten missbraucht, um den Krieg zu rechtfertigen, wie die das spanische Team und Stratfor nahe legen? Oder sind sie umgekehrt ein Beweis dafür, dass ein Völkermord im Kosovo verhindert werden konnte, wie der Autor und politische Analyst Michael Ignatieff in der New York Times schreibt? Eine ernsthafte Antwort darauf kann es erst geben, wenn das Tribunal seine endgültigen Zahlen vorgelegt hat – im Herbst 2000. Und die Frage, wann bei einem Völkermord eingegriffen werden soll, bleibt ohnehin offen.
Karl Gersuny
und Rüdiger Rossig
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