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Kahles Tischchen

Zu Besuch bei einer Sozialanwältin

von GABRIELE GOETTLE

Geld allein macht nicht glücklich. Es gehören auch Aktien, Beteiligungen, Geld und Grundstücke dazu. (D. Kayl)

Unbeteiligte Außenstehende glauben vielleicht noch, dass es nur um mehr oder weniger Geld geht, mit dem manche auskommen müssen. Es ist aber nicht nur die Verarmung erdrückend für die Betroffenen, sondern auch ihre Entmündigung und amtliche Bevormundung durch Anordnung, Sanktion und Kontrolle. Hartz IV greift ganz direkt und einschneidend in die Lebensgestaltung und privaten Angelegenheiten von all jenen ein, die von der Massenarbeitslosigkeit ausgesondert beziehungsweise betroffen wurden. Mehr als sieben Millionen beziehen Arbeitslosen- und Sozialgeld. Etwa 14 Millionen noch nicht erfasste Deutsche leben unter einem bedrohlich sich verschärfenden Armutsrisiko. Die neu entdeckte und zugleich mit dem Stigma der Mangelhaftigkeit versehene „Unterschicht“ wächst, und sie verschlingt auch Teile des entsetzten Mittelstandes. Wer im sozialen Grabenkampf nicht vollends überrollt werden will, braucht in ausweglos scheinenden Situationen unbedingt die Hilfe eines Rechtsanwaltes. Noch steht sie Mittellosen zu.

Regine Blasinski, seit 15 Jahren Rechtsanwältin mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Sozialrecht, war so freundlich, uns einen halben Tag zu opfern und aus ihrem Arbeitsalltag zu erzählen. Ihre Kanzlei ist in Wilmersdorf. Die große Altbauwohnung im Erdgeschoss teilt sie sich mit einem Kollegen. Sie sammelt Kunstwerke aus Blech und hat sich originelle Regal- und Tischkonstruktionen aus Baugerüststangen und Glasplatten machen lassen. Zwei Aktenberge lagern auf, zwei unter dem Arbeitstisch. Es herrscht eine sympathische Gelassenheit, die auf gehetzte Mandanten sicher wohltuend wirkt.

„Also grundsätzlich: Wenn sie jetzt mit einem Bescheid kommen, zum Beispiel mit dem Bescheid, dass die Miete ‚abgesenkt‘ werden soll, dann sage ich dem Mandanten – bei mir heißen sie ja Mandanten und nicht Klienten oder Kunden –, sie können selber Widerspruch einlegen, und ich kläre ihn natürlich darüber auf, ob das also Aussicht auf Erfolg hat oder nicht. Und ich kann mich dann entscheiden, ob ich das übernehme, das Mandat. Oder ob ich’s erst mal dabei belasse, dass ich sage: Legen Sie erst mal Widerspruch ein und melden Sie sich erst dann wieder, wenn der Widerspruchsbescheid kommt. Grundsätzlich können sie davon ausgehen, wer mittellos ist, wer Hartz-IV-Empfänger ist, der bekommt natürlich auch Prozesskostenhilfe, so heißt das, früher hieß das Armenrecht. Immer vorausgesetzt, dass Aussicht auf Erfolg besteht. Aber das muss eben geklärt werden. Es ist ja nicht so, dass der Anwalt irgendwie viel kostet. Die Leute müssen nur einen Beratungshilfeschein beantragen, und wer das nicht schafft, da macht das dann auch noch ausnahmsweise der Anwalt. Ich erkläre das normalerweise ganz ausführlich. Also sie gehen zum zuständigen Amtsgericht – welches zuständig ist, sage ich ihnen. Sie nehmen ihren Bescheid mit, müssen dort einen Bogen ausfüllen und bekommen dann dort den Berechtigungsschein, mit dem kommen sie dann hierher zu mir. Hier müssen sie dann allerdings zehn Euro auf den Tisch legen, die entfallen als Eigenanteil, das ist im Beratungshilfegesetz so geregelt. Wenn nun aber einer die zehn Euro nicht hat, soll ich den dann wegschicken?! Die Beratungshilfe wird ja auf Staatskosten gewährt. Ich bekomme mein Honorar von der Landeshauptkasse, für eine Beratung 30 Euro plus Mehrwertsteuer. Wenn ich Widerspruch einlege, dann sind es 70 Euro plus Auslagen plus Mehrwertsteuer. Ja und dann muss man sehen,was zu tun ist, zum Beispiel gegen einen Widerspruchsbescheid eine Klage einreichen beim Sozialgericht – das muss ich innerhalb einer Frist von einem Monat machen – oder es gibt auch dringende Fälle, zum Beispiel die Räumung steht an, weil Mietschulden aufgelaufen sind bei einer Familie mit Kindern. Da muss man sich dann per einstweiliger Anordnung ans Sozialgericht wenden usw. Also wenn es um Rechtsfragen geht, ist immer Prozesskostenhilfe zu visieren, so hat es neulich mal das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss ausgedrückt.“

Auf unsere Frage, wie die Mandanten eigentlich zu ihr finden, sagt sie: „Das ist verschieden, teilweise weil sie ins Telefonbuch gucken, oder ins Internet, auch durch Sozialarbeiter oder Mundpropaganda, oder weil sie beim Berliner Anwaltsverein anrufen, es gibt da eine Anwaltsauskunft, und dann hat der Berliner Anwaltsverein ja auch mehrere Hartz-IV-Beratungen gemacht, da ist dann die Anwaltsliste auch drin. Und wenn das dann in meinem Bezirk ist, dann bin ich das. So funktioniert es. Eigentlich ganz einfach.“ Wir möchten gerne erfahren, mit welchen Problemen man sich am häufigsten an sie wendet. „Also das typische Problem – und das haben wir auch weiterhin – ist, dass der Mandant nicht versteht, wie so ein Bescheid aufgebaut ist. Also der Betreffende hat zum Beispiel früher 900 Euro gekriegt, weil er noch Anspruch auf einen befristeten Zuschlag hatte. So, das sind die Leute, die vorher Arbeitslosengeld I bezogen hatten, und das fällt jetzt weg, okay. Und dann sind das Fälle, wo man den Leuten einfach noch mal erklärt, wodurch ist das Einkommen erzielt worden? Wobei übrigens der 1,50-Euro-Job nicht mit angerechnet wird, das glauben die Leute aber immer. Überhaupt gibt es Probleme mit dem Einkommen, wenn es bezogen wird, zum Beispiel im Falle der sogenannten ‚Aufstocker‘.“ (Erwerbstätige mit sogenannten Niedriglöhnen, die ohne zusätzliche Sozialleistungen nicht existieren können. Es gibt mehr als eine Million erwerbstätige ALG-II-Bezieher, die quasi zu einem staatlich ergänzten Mindestlohn arbeiten. Anm. G. G.) „Man muss dazu wissen, dass durchaus auch viele Selbstsrändige zu den ‚Aufstockern‘ gehören, weil ihre Betriebseinnahmen nicht reichen. Und wir haben auch Akademiker, das darf man bitte nicht vergessen! Also Sie können davon ausgehen, wenn jemand 2.000 Euro monatlich verdient, bei angemessener Miete, und er hat zwei Kinder, dass da natürlich fast nichts mehr bleibt.

Und dann kommen zu mir ALG-II-Empfänger mit verschiedenen Problemen, zum Beispiel Leute, die sagen: Unser Kühlschrank oder unsere Waschmaschine ist kaputtgegangen. Wobei man wissen muss, dass es nur noch drei ‚einmalige Leistungen‘ gibt: 1. die ‚Erstausstattung‘ für die Wohnung, 2. für Klassenfahrten, 3. für Schwangere bei der Geburt.

Und wenn was kaputtgeht, dann gibt es Hilfe nur auf Darlehensbasis. Und das wird dann verrechnet bis zu zehn Prozent. Überlegen Sie mal, 345 Euro für eine Einzelperson, und dann zehn Prozent! Und als Nächstes geht was anderes kaputt. Also, Sie kommen dann automatisch in die Schuldenfalle. Der Regelsatz wurde ja erhöht, er lag früher bei 296 Euro – zuzüglich der einmaligen und anderen Leistungen, die alle gestrichen wurden – und in den 345 Euro ist auch noch eine ‚Ansparpauschale‘ enthalten, genau für solche Fälle, kaputter Kühlschrank oder Waschmaschine. Auch für die Auszugsrenovierung. Letzteres ist revisionsanhängig beim BSG. Und wer also das Darlehen in Anspruch nimmt, der muss wissen, was auf ihn zukommt. Haben Sie eine Vorstellung, was im Regelsatz enthalten ist? Regelleistung heißt es korrekt, für Essen, das heißt für Nahrung, Getränke und Tabakwaren zum Beispiel, da beträgt der Anteil 131,10 im Monat! Jetzt rechnen Sie mal, wenn Sie da einen oder gar mehrere Abzüge von je zehn Prozent haben im Monat? Das geht nicht! Also das sind so die typischen Anfragen, mit denen die Leute kommen. Oder viele Problemfälle gibt es auch bei der ‚Einkommensanrechnung‘, zum Beispiel bei Paaren, die unterschiedliche Einkommen beziehen, oder bei Künstlern, die unregelmäßig Einkommen haben, also sie haben versäumt, Änderungen rechtzeitig anzugeben, dann kommt plötzlich ein Bescheid, sie müssen zwei- bis dreitausend Euro zurückzahlen. Das geht natürlich nicht, da muss man dann zum Beispiel gucken, wo sind die Pfändungsfreigrenzen.

Oder ein Problem sind auch die Mietobergrenzen, sie wissen, angemessen für sie sind jetzt nur noch 360 Euro Warmmiete, wer da viel drüberliegt, muss die Kosten selber tragen oder umziehen. Die Wohnungen fehlen natürlich, gut, es gibt so ein Marktsegment in Marzahn, in Lichtenberg. Wenn sie im Internet in die AV-Wohnen reinschaun, da sind die Regelungen drin und auch, dass die Quadratmeterzahl ihrer Wohnung keine Rolle mehr spielt. Davon hat man sich verabschiedet, maßgeblich ist nur die Miethöhe für die Angemessenheit einer Wohnung. Es gibt aber Ausnahmen.“ (Alleinerziehende mit zwei und mehr Kindern, Schwerkranke, Behinderte und Langzeitarbeitslose über 60 müssen nicht umziehen, Familien mit kleinen Kindern und Mieter, die schon mindestens 15 Jahre in der Wohnung leben, dürfen die Obergrenze um zehn Prozent überschreiten. Anm. G. G.) „Ich habe auch schon Fälle gesehen, wo jemand 484 Euro Miete übernommen bekam, das gibt es durchaus.

Nachdem das SGB II, also das Sozialgesetzbuch II, in dem Hartz IV bzw. das 4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt jetzt niedergelegt ist, nachdem es also am 1. 1. 2005 in Kraft getreten ist, hat man dann ja bald Neuregelungen geschaffen. Am 1. 10. 2005 kam das ‚Freibetragsneuregelungsgesetz‘, später kam das ‚Optimierungsgesetz‘ und danach das ‚Fortentwicklungsgesetz‘. Also für Kabarettisten ist das ein toller Stoff, es gibt einen, Michael Boots, der beschäftigt sich damit. Gut. Teilweise bringen diese Gesetze Klarstellungen – das Gesetzeswerk war ja nicht immer so klar, dass man es anwenden konnte. Und dann haben wir natürlich auch viele Verschärfungen drinnen. Und eine der größten Verschärfungen nach meiner Meinung ist folgende Problematik: Inzwischen dürfen unter 25-Jährige nicht mehr von zu Hause ausziehen, sie werden mit in die ‚Bedarfsgemeinschaft‘ einbezogen. Vorher war es so: Jemand, der erwerbslos und über 18 war, der bildete eine eigene Bedarfsgemeinschaft, durfte sich eine Wohnung nehmen, bekam 345 Euro plus anteiliger Miete. Jetzt muss er in der elterlichen Wohnung bleiben und bekommt nur noch 276 Euro. Wer unerlaubterweise auszieht, erhält zwar weiterhin die 276 Euro, er bekommt aber kein Geld für Unterkunft und Heizung. Das ist schon problematisch. Also neulich war ein Vater hier, ein Urberliner, arbeitet bei der BSR, und der hat sich aufgeregt! Sagte, das kann doch wohl nicht wahr sein, dass ich ‚unter 25-Jährige‘ miternähren muss – nicht, dass ich sie nicht liebe, aber das sehe ich gar nicht ein, dass wir hier gebeutelt werden als kleine Leute! Ich kann da nur sagen, legen Sie Widerspruch ein, aber es wird keinen Sinn haben, denn die Jobcenter sind verpflichtet, sich ans Gesetz zu halten. Das heißt, man muss das ganz nach oben bringen, bis die Frage gestellt wird, ob das nicht verfassungswidrig ist. Ich kann nur eins sagen, das gab es in der Sozialhilfe ja auch nicht, dass unter 25-Jährige mit in die Bedarfsgemeinschaft der Eltern eingebunden sind. Und es kommt ja noch hinzu, dass das Einkommen der Eltern mit angerechnet wird, da muss man also Auskunft geben, alles offen legen, da ist man dann erst mal baff!

Eine weitere Verschärfung ist die engere Auslegung der Bedarfsgemeinschaft.“ (Die Jobcenter oder andere zuständige Stellen können nun anhand bestimmter Anhaltspunkte automatisch, quasi zu Recht, vermuten, dass gemeinsam wohnende Leute in Wahrheit „eheähnlich“ zusammenleben – das umfasst auch die Vermutung gleichgeschlechtlicher Beziehungen – und somit eine Bedarfsgemeinschaft bilden. Anm. G. G.) „Das betrifft natürlich nicht nur jüngere Leute. Ich hatte einen Fall, es kommt ein Herr zu mir, er ist bald 80, ein ehemaliger Künstler mit sehr kleiner Rente, die vom Amt für Grundsicherung aufgestockt wird. Er bekommt also 345 Euro zum Leben und hatte eine Miete von etwa 300 Euro. Nun wohnte er aber nicht allein, er wohnt mit einer Frau zusammen. Die Dame vom Grundsicherungsamt sagte, sie leben doch in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft! Und er sagte, nein, lebe ich nicht! Ich schlafe mit der Frau nicht. Dann sagt natürlich die Bearbeiterin, dass es darauf gar nicht ankommt. Ich hatte ihn ein bisschen vorgewarnt, sagte, rechnen Sie mit einem Hausbesuch, das wird sicher noch mal geprüft. Für mich war die Sache klar, die hatten früher mit zwei anderen in einer größeren WG-Wohnung gelebt, die zwei sind weggestorben, und die beiden Verbliebenen, die haben sich dann eine kleinere Wohnung gesucht und angemietet. Früher musste das Amt beweisen, dass es eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ist. Heute gilt ja die Beweislastumkehr. Wer nicht beweisen kann, dass er alleinstehend ist, wird ganz klar zu einer Wirtschafts- und Einstandsgemeinschaft erklärt. Die Frage ist natürlich, wie kann ich beweisen, dass das keine eheähnliche Gemeinschaft ist? Der Bundessozialrichter Ulrich Wenner – das können Sie im Internet auch nachlesen – kritisiert das als „verfassungsrechtsproblematisch‘.“ (Er sagt u. a.: Weil zwei Personen im Rechtssinne nicht beweisen können, dass sie einander nicht in einer eheähnlichen Partnerschaft verbunden sind, kann ihnen auch keine entsprechende Beweislast auferlegt werden. Anm. G. G.) Im Fall des älteren Herrn hatte die Dame vom Grundsicherungsamt dann doch ein Einsehen, aber oft geht es anders aus.

Und jetzt hat man ja auch den ‚Hausbesuch‘ insgesamt mit reingenommen.“ (Es gab eine Ausweitung der Außendienste z. umfangreichen Durchführung kontrollierender Hausbesuche. Der Betroffene darf eine Durchführung d. Hausbesuches zwar verweigern, riskiert damit aber Leistungskürzung. Kontrolliert wird auch verschärft die werktägliche Erreichbarkeit als Leistungsvoraussetzung, was zum Teil durch Callcenter überprüft wird. Anm. G. G.) „Das sind natürlich alles ‚Maßnahmen gegen den Leistungsmissbrauch‘ – das Problem hatten wir ja verstärkt 2004 in den Medien, wo unentwegt behauptet wurde, das seien Sozialschmarotzer. Na gut, viele haben vielleicht gesagt, sie ziehen aus, dann bekommt jeder zwei mal 345 Euro, in nichtehelicher Gemeinschaft sind das nur zwei mal 311 Euro und anteilige Miete. Und wenn sie jetzt noch Kinder haben und sagen dann, sie sind alleinerziehend, dann bekommen sie zudem noch den Mehrbedarf für Alleinerziehende. Das darf man nicht unterschätzen, das summiert sich natürlich. Es gibt viele Probleme mit der nichtehelichen Gemeinschaft. Wir hatten das auch schon, dass eine Mutter sagte, der ist gar nicht der Kindesvater, bzw. sie hat den Kindesvater nicht benannt, sie lebt aber mit ihm in einer WG oder hat eine Wohnung im selben Haus. Das hat zur Konsequenz, dass sie zwar als Alleinerziehende den Mehrbedarfszuschlag erhält, aber das Problem ist, dass die Unterhaltsvorschusskasse verlangt, dass sie den Kindesvater angibt, sonst bekommt sie keinen Unterhalt.

Ein anderes Problem betrifft die Patchworkfamilien. Sie wissen vielleicht, dass durch die Neuregelung jetzt Folgendes passiert: Wer heute eine Patchworkfamilie gründet, zum Beispiel mit einer Mutter, die ALG II empfängt, der muss sich darüber klar sein, dass er für deren Kinder, die ja nicht seine eigenen sind, sondern seine Stiefkinder, dennoch voll einzustehen hat. Das heißt, er hat sein Einkommen einzubringen, ist unterhaltspflichtig, egal ob er Stiefvater oder Stiefpartner ist. So wurde das geregelt. Also, dass man nun auch noch die Stiefeltern- bzw. Partnerschaft verpflichtend heranzieht, das geht eindeutig zu weit!“ (Auch Bundessozialrichter Wenner hält die Versorgungspflicht von Stiefpartnern für verfassungsmäßig nicht zulässig. Anm. G. G.) „Man muss abwarten, wie das Bundessozialgericht dazu entscheidet. Also stellen Sie sich doch einfach mal vor, Sie lieben jemanden und sagen okay, die Kinder kommen mit in den Haushalt. Wir sind eine nichteheliche Gemeinschaft, ist klar. Aber soll ich als Stiefelternteil dann auch noch für die ‚fremden‘ Kinder einstehen?! Das wirkt abschreckend und verhindert geradezu die Patchworkfamilien. Gut, wenn es kein finanzielles Problem ist, okay, aber wenn es einer nicht kann, wenn dann das Geld nicht mehr reicht? Das geht doch nicht! Warten wir die Entscheidung ab.

Also wenn jetzt die Bundesregierung sagt, wir haben einen Rückgang bei ALG-II-Empfängern, dann können sie davon ausgehen, dass dieser Rückgang genau daraus resultiert, dass die Bedarfsgemeinschaft erweitert wurde, dass die Stiefeltern auch noch mit ins Boot gezogen wurden. Und dadurch natürlich, dass man stärker sanktioniert, indem man zum Beispiel Leute, die keine zumutbare Arbeit aufnehmen, sehr viel schneller aus dem Leistungsbezug ausschließt. Dann sind sie auch raus aus der Statistik.“ (In Berlin erhalten etwa 316.000 Haushalte Leistungen nach Hartz IV. Anm. G. G.) „Ich weiß, dass allein in Neukölln jeder Vierte ALG II bezieht. Wir haben dort 45.000 Bedarfsgemeinschaften, rechnen sie das hoch, das sind zirka 70- bis 75.000 Menschen. Das ist schon ein Brandherd, und wenn Sie sich dann noch vorstellen, dass die ganzen Jugendlichen zu Hause nicht ausziehen dürfen – ja wunderbar, damit hat man die Bedarfsgemeinschaften auch schon wieder verringert und hat gespart.

Es gibt ja eine ganze Anzahl von Leuten, die ALG II gar nicht erst in Anspruch nehmen wollen. Ich kenne einen arbeitslosen Akademiker, der hat mich kurz vor Weihnachten noch angerufen, erzählte, dass er keinen Job findet, aber auf gar keinen Fall ALG-II-Empfänger werden möchte und nun beim Callcenter arbeitet. Gut, ist natürlich grauenvoll und furchtbar anstrengend, aber er verdient ganz gutes Geld. Und es gibt natürlich auch den umgekehrten Fall. Leute, die immer alimentiert werden wollen, es gar nicht anders kennen. Ich hatte so einen Fall, ein junger Mann, 24 Jahre alt, es ist in der Familie jetzt schon die dritte Generation, die Sozialhilfe bezieht. Der muss sich natürlich bewerben, muss alles machen, er muss eben auch morgens um vier oder halb fünf beim Berliner Großmarkt in der Beusselstraße antreten, weil sie da Leute nehmen. So! Und wie habe ich denn mein Studium verdient? Und damit kommen wir zu dem Problem, das ich habe, wenn ich gar nichts – oder noch nichts – gelernt habe. Junge Leute wollen ja heute gern Designer werden oder Medienberater. Wenn sie selber zahlen, ist das ja erst mal kein Problem, aber wenn sie Staatskohle haben wollen, stellt es ein Problem dar. Da ist jede Arbeit zumutbar.“

Wir erwähnen, dass Freunde von uns von einer weiteren Verschärfung für ALG-II-Empfänger berichtet haben, dem „Sofortangebot“. (Angeboten werden zum Beispiel Maßnahmen oder 1-Euro-Jobs, zu denen nicht nur Jugendliche, sondern auch alle anderen Antragsteller verpflichtet werden. Wer dieses Angebot ablehnt, erhält eine 30%ige Leistungskürzung.) „Ja, dazu wollte ich schon die ganze Zeit etwas sagen, zum Thema Eingliederungsvereinbarung. Also, ich habe schon 2005 – als es bis zum Erstgespräch teilweise drei Monate gedauert hat – den Leuten geraten, bietet dem Jobcenter doch mal an, dass sie eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. Also Eingliederung in Arbeit ist damit gemeint. Fallmanager und Klient vereinbaren miteinander das Verfahren zur Eingliederung in Arbeit. Auch wenn es Formblätter sind, wird trotzdem individuell festgelegt, was muss derjenige tun, was bekommt er als Gegenleistung. Es wird beispielsweise festgelegt, was für eine Weiterbildungsmaßnahme genommen wird, wie lange die geht – auch was passiert, wenn man sie abbricht ohne wichtigen Grund, also wie sanktioniert wird – oder auch wie viele Bewerbungen man schreiben muss zum Nachweis der Arbeitsbemühungen. Also es ist schon eine Möglichkeit, um initiativ zu werden, etwas in der Hand zu haben, was quasi so eine Art öffentlich-rechtlicher Vertrag ist, etwas auf Gegenseitigkeitsbasis. Ansonsten ist man nur eine Nummer, eine Aktennummer. Davon wird leider viel zu wenig Gebrauch gemacht, viel mehr wird versucht, die Leute gleich in eine MAC – Mehraufwandsentschädigung, ihnen besser bekannt als 1,50-Job – unterzubringen.

Also wir müssen uns ja ständig mit Kollegen austauschen. Ich bin zum Beispiel im Forum Sozialhilferecht tätig seit mehreren Jahren. Das ist angesiedelt bei der Diakonie. Das ist ein Forum, da treffen sich Richter, Anwälte, Sozialarbeiter. Wir tauschen uns aus, sachlich und auch rechtlich. Einmal im Monat treffen wir uns, und da referiert dann meist jemand zu einem Thema, beispielsweise Sanktionsbescheide, das nächste Mal Erstattung. Und es gibt eben wirklich mal so einen Austausch mit den Erfahrungen der Sozialarbeiter, und die erfahren wiederum von uns, was sie so rechtlich machen können. Das letzte Thema im Forum war Einkommensberechnung. Man steht ja immer nur da und rechnet nach, ich komme fast immer auf andere Zahlen als das Amt. Also wir als Anwälte haben ja wirklich schon genug zu tun und können nicht auch noch stundenlange Berechnungen aufstellen. Und da haben wir im Forum zwei Sozialarbeiter, einer ist für ‚betreutes Wohnen‘, einer für ‚Härtefälle‘, die hatten das Problem mit dem Berechnen auch, und die beiden haben jetzt so ein Programm entwickelt, sie haben’s vorgeführt und es funktioniert. Großartig. Ich kann damit auch den Kindergeldzuschlag berechnen. Und dann nehmen wir uns natürlich die Thematik ‚Fortentwicklungsgesetz‘ vor – und natürlich die Neuregelungen zum Sozialhilferecht sind Thema. Das Fortentwicklungsgesetz ist ja seit dem 1. 8. in Kraft und brachte noch mal Verschärfungen mit den Sanktionen – also, dass die Leute dann völlig rausfallen, und eben die Sache mit dem Hausbesuch, das ist alles Fortentwicklung!“ Wir fragen: Was wird denn eigentlich fortentwickelt? Sie lacht und sagt: „Na das Gesetz wird fortentwickelt. Und die Verschärfung zum Leistungsmissbrauch, kann ich Ihnen nur sagen!“ Sie schaut auf ihren Computerbildschirm. „Ich lach’ mich tot: Optimierungsgesetz, Fortentwicklungsgesetz … Na ja, man kann ja auch nicht ständig sagen Neuregelung und dann noch ’ne Neuregelung. Na gut. Also ich habe im Forum auch die Aufgabe, das Protokoll zu machen, und das wird dann immer ins Internet gestellt, das macht die Diakonie. Da gibt es ja sehr viel zum Thema im Internet, zum Beispiel auch die Homepage das Paritätischen Wohlfahrtsverbandes oder von Tacheles e. V., da sind auch immer sehr interessante Sachen drin.

Und da ist noch was, über diese Problematik haben wir hier noch nicht gesprochen. Jetzt geht es nämlich wirklich los: Energieschulden. Auch nach Kenntnis eines Sozialrichters – die Leute haben zunehmend Energieschulden. Sie können ihre Energiekosten nicht mehr aus dem Regelsatz bezahlen – also es geht hier um Stromkosten. Der Strom hat so was von angezogen. Die Leute können sich das einfach auch nicht zurücklegen, das schaffen sie nicht. Die Bundesregierung behauptet zwar was anderes, aber deren Berechnungen basieren auf einer Stichprobenerhebung von 2003! Und da hatten wir noch nicht diese Preise, auch nicht die Praxisgebühr. Also noch mal, Energieschulden, das ist die Problematik. Die Stromanbieter haben teilweise den Leuten den Strom abgedreht, das war natürlich schlimm, besonders für Leute mit Kindern. Es hat dann einige Entscheidungen gegeben, die gesagt haben, das ist nicht zulässig. Und inzwischen machen das die Stromanbieter auch nicht mehr, dass sie abschalten. Sie versuchen, dass es zu einer Einigung kommt, auf Darlehensbasis beispielsweise. Und dann ist da natürlich immer wieder die Frage, wie zahl ich’s ab? Wieder auf 1,50-Euro-Basis.

Und was ich unbedingt noch loswerden möchte: Viele Leute sind heute ohne Krankenversicherung. Also das ist für mich immer die erste Frage, wenn einer kommt, sanktioniert worden ist, also seine Leistungen wurden gestrichen, er ist raus. Das bedeutet dann ja immer gleichzeitig, dass er auch nicht mehr krankenversichert ist. Wenn er sich nicht freiwillig weiterversichert, dann ist er raus aus der Kasse. Das sind keine Einzelfälle. Das Problem entsteht auch bei nichtehelichen Gemeinschaften, man wird zwar als solche angesehen, ist aber nicht mitversichert beim berufstätigen Partner, wie man das als Ehepartner wäre. Wer sich nicht privat versichert, steht ohne Krankenversicherung da. Manche haben so wenig Geld, dass sie die Beiträge nicht – oder nur sehr schwer – bezahlen können. Wer zweimal nicht bezahlt, ist raus! Und in die gesetzliche Kasse kommen sie nur dann wieder rein, wenn sie arbeiten, mindestens 400 Euro verdienen und zwölf Monate pflichtversichert sind. Und da ist jetzt der Gesetzgeber auf die Idee gekommen und hat gesagt: Wenn es so ist, dass ich durch die freiwilligen Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge hilfebedürftig bin, bekomme ich diese Leistungen, DIESE Leistungen, wie gesagt, auch vom Jobcenter. Das soll verhindern, dass die Leute ausgesteuert werden. Wichtig ist hier zu sagen, dass man sich um den Krankenversicherungsschutz unbedingt kümmern muss! Das betrifft ALG-II-Empfänger natürlich nicht. Wer ALG II bezieht, ist krankenversichert, pflegeversichert und rentenversichert – wer Leistungen der Sozialhilfe bezieht, ist nur kranken- und pflegeversichert, der ist nicht in der Rentenversicherung. Das wissen viele nicht! Also das ist ein großes Problem.“

(Einige Tage nach unserem Gespräch einigten sich Union und SPD im sogenannten Gesundheitskompromiss auf strittige Punkte der Gesundheitsreform. Vorgesehen ist u. a. eine allgemeine Versicherungspflicht. Wer noch nicht versichert ist, soll zu einem „Basistarif“ in jede private Krankenkasse eintreten können und hat Anspruch auf eine Basisversorgung. Ich fragte Frau Blasinski telefonisch, was sie davon hält. „Darüber will ich mich gar nicht weiter äußern. Erst wenn es Gesetz ist, werde ich mich damit beschäftigen. Was mich eher interessiert, ist, wie sollen sich Leute einen Zahnarzt leisten? Dieses Problem ist ja überhaupt nicht gelöst. Es arbeitet doch bei uns kein Zahnarzt zu den Festbeträgen, die die Kassen für Zahnersatz gewähren, das weiß doch jeder! Das sage ich ihnen voraus, dass wir wieder viele Zahnlose haben werden, man sieht es ja jetzt schon.“)

Wir fragen, ob die Verhandlungen vor dem Sozialgericht eigentlich öffentlich sind, ob der Mandant erscheinen muss und wie es überhaupt vonstatten geht. „Im Regelfall sind die Verhandlungen öffentlich. Der Mandant ist meist dabei, muss aber nicht mitkommen, sofern der Richter es nicht ausdrücklich anordnet. Eine Besonderheit gegenüber der Zivilgerichtsbarkeit ist diese – und das wissen viele gar nicht –, dass das Gericht zu dritt besetzt ist. Es sind zwei Schöffen dabei. Ist paritätische Besetzung. Zwei Laienrichter sind dabei, was oftmals ganz schön ist, finde ich. Und dann wird der Sachverhalt erst mal gründlich vorgetragen. Das Gericht hat ja gleich, nachdem ich Klage eingereicht habe, die Akte vom Jobcenter angefordert. Es hat also, ebenso wie ich, alles vorliegen. Und dann geht es eigentlich relativ schnell, während von der Einreichung der Klage bis zum Termin oft neun Monate vergehen, weil so viele Klagen bearbeitet werden müssen und zu wenig Richter da sind. Aber vieles geht auch mehr oder weniger schriftlich. Wenn die Behörde zum Beispiel nach meinem Schriftsatz sagt, gut, wir zahlen, dann brauche ich nicht mehr zur mündlichen Verhandlung, dann ist der Fall erledigt.“ (Allein beim Berliner Sozialgericht gingen 2006 mehr als 12.000 Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide ein, 2007 wird sich die Zahl voraussichtlich verdoppeln. Anm. G. G.)

Zum Schluss möchten wir noch wissen, weshalb sie sich fürs Sozialrecht entschieden hat. „Ich fand die Materie interessant, und ich hatte gute Professoren. Mein erstes Examen habe ich 1989 gemacht, mein zweites Examen 1992. Damals war ich immer alleine (sie lacht), habe meine Prüfung alleine gemacht, ich bin als Exotin sozusagen behandelt worden. Na ja, und dann ist das eigentlich durch Hartz IV sprunghaft angestiegen. Es wurde in der Anwaltschaft ein bisschen Werbung dazu gemacht: Nehmt mal Sozialrecht! Denn nun schaun Sie mal“, sie zeigt auf das Bücherregal mit den Gesetzestexten, „das hat alles mit SGB II und SGB XII zu tun, was da steht, also es ist ziemlich komplex und wird immer komplexer. Aber ich muss sagen, ich find’s einfach spannend, denn ich bin an der Basis.“

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