: Indiens vermisste Kinder
Jährlich verschwinden in Indien zehntausende von Kindern, nicht nur aus armen Familien. Warum die Polizei nur selten reagiert – obwohl Pädophilie ein wachsendes Problem ist
AUS DELHI BERNARD IMHASLY
Als der dreijährige Sohn des Chefs von Adobe India Ltd. im vergangenen Oktober auf dem Schulweg verschwand, erregte dies sofort landesweites Aufsehen. Um das Wohnhaus der Familie in Noida, der boomenden Satellitenstadt von Delhi, hatte die Polizei Schranken errichtet, Uniformierte patrouillierten auf und ab, während vom Dach der Fernsehwagen die Kameras jede Bewegung um das Haus filmten. Mehrere Dutzend Frauen und Männer bildeten hinter den Abschrankungen Sprechchöre und schwenkten Fotos. Es waren die Bilder ihrer Kinder – über vierzig –, die in den letzten zwei Jahren im nahe gelegenen Slum von Nithari verschwunden waren. Fotografen schossen ein paar Bilder, doch sonst schien niemand von ihnen Notiz zu nehmen, weder die Polizei noch die Medien. Beide interessierte nur das Verschwinden des Kindes eines Mannes, der mit seiner Firma das „neue Indien“ repräsentiert. Mit der Rückkehr des Kindes nach drei Tagen kehrten auch die Kameras der Vorstadt wieder ihren Rücken zu.
Seit Ende des Jahres weiß die indische Öffentlichkeit, worum es sich bei den vielen Kinderbildern handelt. Die Polizei verhaftete den Besitzer und den Angestellten eines großen Hauses am Rande von Nithari. Der Vater von Payal, einer jungen Prostituierten, war aus seinem Dorf in den Bergen gekommen und hatte die Polizei unablässig gedrängt, Nachforschungen über ihr Verschwinden anzustellen. Nach drei Monaten erst machte die Polizei eine Durchsuchung bei Hausbesitzer Mohinder Singh Pandher, einem häufigen Kunden von Payal. Sie ortete Payals Mobiltelefon – es lag im Haus Pandhers.
Rasch wurde klar, dass dieser – oder sein Angestellter Surender Kohli – nicht nur die Prostituierte ermordet hatte. Plötzlich begann die Polizei auf die vielen Anzeigen über vermisste Kinder aufmerksam zu werden, die sich über zwei Jahre lang angesammelt hatten, und deren Spuren die Polizei nicht ernsthaft verfolgt hatte. Im offenen Abwasserkanal hinter dem Haus wurden die sterblichen Überreste von nicht weniger als 17 Leichen gefunden, meist nur noch Knochen. Im Haus fand sich im Verlauf der letzten Wochen nicht nur pornografisches Material in Überfülle, sondern auch Teile von Körpergliedern und Organen. Kohli bekannte, dass er nicht nur Payal, sondern auch die Kinder erwürgt hatte, nachdem sein Arbeitgeber sie sexuell missbraucht hatte. Er habe sich an den Leichen, bevor er sie zerschnitt – und möglicherweise Teile davon verspeiste –, sexuell befriedigt. Es ist unklar, wie viele Opfer einer oder beide auf dem Gewissen haben – die Zahl neu entdeckter Leichenteile nimmt weiter zu.
Medien und Polizei agierten nun hektisch. Auch die Politiker standen Schlange, um die Opfer zu besuchen, ihnen Schmerzensgeld-Schecks auszustellen und die Regierung der Nachlässigkeit zu bezichtigen. Die Nachrichtenkanäle übten harsche Selbstkritik, um dann auch die Polizei heftig zu kritisieren. Ihr Zustand ist in der Tat problematisch. Die gewöhnlichen Polizeigefreiten sind schlecht bezahlt und können von Wohlhabenden damit leicht mit Schmiergeld zum Schweigen oder Nichtstun gebracht werden.
Polizei-Offiziere widmen sich derweil lieber dem Schutz und den Interessen ihrer politischen Dienstherren, die sie mit Versetzungen und Beförderungen nach Belieben belohnen und strafen können. Ein Beispiel war Subinspektorin Simranjeet Kaur, die ins Dorf des Vaters von Payal gegangen war, um die Leute dort zu überzeugen, dass Payal entlaufen sei und der Vater derweil einen ehrenwerten Mann – Pandher – erpresse. Kaur ist inzwischen aus dem Dienst entlassen worden.
Den Platz an den Schranken vor dem Haus Pandhers füllt inzwischen eine andere, größere Menschenmenge – ebenfalls mit Kinderbildern. Aus ganz Nordindien sind Leute zusammengeströmt, deren Kinder ebenfalls verschwunden sind. Sie wollen die Anwesenheit von TV-Kameras nutzen, um die Fotos einer breiten Öffentlichkeit vor Augen zu bringen, in der verzweifelten Hoffnung, Nachrichten der Vermissten zu erhalten. Die Angst, dass diese ebenfalls den Psychopathen Pandher und Kohli zum Opfer gefallen sein könnten, hat über vierhundert dieser Familien bewogen, bei der Noida-Polizei eine Vermisstenanzeige zu machen.
Die Tragödie von Nithari hat damit eine noch tiefer liegende Malaise offenbart. Jährlich werden über 44.000 Kinder in Indien als vermisst gemeldet. Laut P. M. Nair, der eine Studie über Frauen- und Kinderhandel in Indien geschrieben hat, dürfte die Zahl mindestens doppelt so hoch liegen, da viele Kinder gar nicht als vermisst gemeldet werden. Vikas Sawant, ein Vertreter der NGO Pratham in Bombay, schätzt die Gesamtzahl verschwundener Kinder in Indien auf rund drei Millionen.
Das große Gefälle zwischen Arm und Reich, zwischen prosperierenden und bitterarmen Regionen bewirkt einen Migrationsstrom vom Land in die Städte. Rund hundert Millionen Inder verdingen sich auf Arbeitsplätzen außerhalb ihrer Dorfgemeinschaften. Nithari ist das Beispiel eines solchen „Dorfs“: die erste Adresse von Menschen aus Bihar und Bengalen, um in Noida und dem nahen Delhi als Hausangestellte, Wächter, Putzleute, Gärtner Arbeit zu finden. Angesichts des Kommens und Gehens in diesem Slum bestand kaum ein Gemeinschaftsgefühl, und als Bürger ohne Identitätspapiere waren sie für die Polizei ohnehin Verdachtspersonen. Deren Untersuchungen richteten sich, entsprechend dem sozialen Vorurteil, dass Verbrechen von armen Menschen begangen werden, gegen diese Neuankömmlinge.
Rund zehn Prozent der hundert Millionen Migranten dürften Kinder sein, die entweder in der Begleitung eines Elternteils oder allein in den Städten unterwegs sind. Pratham schätzt, dass allein die Zari-Industrie (Silberfädensticken und -weben) in Bombay 60.000 Kinder beschäftigt. Die Kinder, die aus Not von zu Hause weglaufen und die in ihren Notbehausungen auf der Straße meist auf sich gestellt sind, sind extrem gefährdet. Sie können leicht entführt und missbraucht werden – sei es in mafiaähnlich organisierten Bettel-Syndikaten oder Prostitutionsringen, sei es als Heimarbeiter. Junge Knaben werden in die Emirate als Jockeys für die dort beliebten Kamel-Rennen geschmuggelt, viele werden zwangsverheiratet, einige dienen gar als Menschenopfer.
Die sexuelle Ausbeutung ist besonders verbreitet, auch wenn der bestialische Irrsinn des Duos Pandher/Kohli die Ausnahme bleibt. Die Aufmerksamkeit für Kindermissbrauch in der Familie ist auch in Indien gestiegen. Der Film „Monsoon Wedding“ von Mira Nair hat vor einigen Jahren einer breiteren Öffentlichkeit die Virulenz der Kombination von sexueller Geheimhaltung und Zusammenleben in der Großfamilie gezeigt. Das Centre for the Prevention of Child Sexual Abuse hat vergangenes Jahr ermittelt, dass von 2.211 Schulkindern in Chennai 42 Prozent in irgendeiner Form sexuell missbraucht worden waren. Zu einem ähnlichen Resultat kam die NGO Rahi in Delhi: 457 von 600 Frauen aus dem oberen Mittelstand in Großstädten waren in ihrer Kindheit von Familienangehörigen und Freunden der Familie „belästigt“ worden.
Pinki Virani, Autorin eines Buchs über sexuelle Kindesmisshandlungen mit dem Titel „Bitter Chocolate“ zitierte in einem Beitrag in der Zeitschrift India Today den Ausspruch eines Scotland-Yard-Beamten, wonach Indien im Begriff sei, zum wichtigsten Umschlagplatz für internationale Pädophilie zu werden. Die familiäre und ökonomische Problematik wird verschärft durch den mangelnden Rechtsschutz für Kinder. Es gibt keine verbindliche Definition von „Kind“, sexueller Missbrauch ist nur bei Vergewaltigung strafbar. Es kommt nur selten zu Vermisstenanzeigen, weil das Gesetz für solche – im Gegensatz zum Tatbestand der Entführung – kaum polizeiliche Untersuchungsschritte verlangt. Die Polizei, sagte Sagar Hudda, ein hoher Polizeioffizier in Delhi, macht sich eher auf die Suche nach einem gestohlenen Auto als auf die Spur eines vermissten Kinds.
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