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Wie geschaffen für einen ganzen Sommer

LESUNGEN Der Literatursommer in Schleswig-Holstein präsentiert AutorInnen aus Island, darunter Eiríkur Örn Norddahl

Früher war alles einfach: Der schleswig-holsteinische Literatursommer, den das Kieler Literaturhaus pünktlich zur Ferienzeit ausrichtet, orientierte sich an dem jeweiligen Schwerpunktland des mondänen Schleswig-Holstein Musikfestivals (SHMF). Und so wurde aus China, Russland oder im letzten Jahr aus den drei baltischen Ländern nicht nur Musik geboten, sondern auch Literatur.

Seit diesem Jahr aber ist alles anders: Ein Schwerpunktland gibt es nicht mehr, künftig sollen ein Komponist und eine Musikerin im Fokus des SHMF stehen; das sind diesmal der Komponist Felix Mendelssohn und die Cellistin Sol Gabetta. Und der Literatursommer des Literaturhauses? Dessen Wahl fiel sehr schnell auf Island, nicht nur, weil die Nordinsel ob ihres eher dürftigen musikalischen Schatzes bisher noch nicht vertreten war. Von seiner Literaturproduktion bis in die unmittelbare Gegenwart aber ist Island wie geschaffen dafür, mal einen ganzen Sommer spendiert zu bekommen. Und so geht es gleich in die Vollen, denn der Romancier Eiríkur Örn Norddahl wird sicherlich auf großes Interesse stoßen, hat er doch gerade mit „Böse“ einen so wuchtigen wie verstörenden Roman vorgelegt, der gewiss Gesprächsbedarf erzeugt – und davon leben bekanntlich Lesungen. Norddahls Heldin Agnes liebt nicht nur den phlegmatischen Dauerstudenten Ómar, sie verknallt sich zugleich in Arnór, einen Reykjaviker Rechtsextremisten, wie er schlimmer kaum sein könnte. Agnes, das Mädchen aus einer litauisch-jüdischen Familie, deren Leben und Studium sich wie manisch um nur eines dreht: um die Erforschung des Holocaust. Grotesk ist das, was Agnes erlebt, hochkomisch auch – denn das Grauen und das Böse lässt sich am besten mit den Mitteln der Komik beschreiben.

Fast schon als Antidepressivum könnte da Steinunn Sigurdardóttir fungieren, der zweite Star dieses isländischen Literatursommers. Sie wird aus ihrem aktuellen Roman „Jojo“ lesen, der von der Kulisse her womöglich den in Islandpullover gehüllten und mit schwerem Schuhwerk ausgestatteten, angereisten Island-Fan enttäuschen könnte: denn die Handlung ereignet sich mitten in Berlin, wo die Autorin lebt, wenn sie nicht in Reykjavik weilt. Held ist ein Mann namens Martin, ein Radiologe, der sein Leben dem Kampf gegen den Krebs verschrieben hat, den er souverän mal gewinnt, mal ebenso verliert. Doch dieser eine Patient, der gleich gehen wird, den kennt er doch? Nur woher? Wo sind sie sich begegnet? Martin wird sich noch erinnern!

Wie Norddahl benötigt auch Sigurdardóttir keine Elfen, keine heißen Schwefelquellen und auch keine verschrobenen Kerle, die „Schwarzer Tod“ trinkend durch die Lande rüpeln, um einen in ihren Bann zu ziehen. Ihr Metier ist das Kammerspiel, ihre Stärke das Rätsel, das mit Fragen beginnt: Welche Geheimnisse wollen wir vor uns mit aller Macht verbergen? Wie halten wir uns stabil, um Traumatisches zu überleben? Und was geschieht, wenn das nicht mehr gelingt?

Höhepunkt Nummer drei: Kristof Magnusson – deutscher Schriftsteller mit isländischen Wurzeln – wird aus Óskar Árni Óskarssons fabelhaftem Buch „Das Glitzern der Heringsschuppe in der Stirnlocke“ rezitieren. Das wird ein Knaller werden, nicht nur weil Magnusson als Theatermann das Rezitieren versteht; sondern weil Oskarssons poetisch-raue Textsammlung in das ländliche, abgeschiedene Island führt, wo sich der Wanderer bereitwillig verirrt und wo die Einheimischen lieber ein Wort zu wenig sagen denn eines zu viel – und das kann man zwischendurch gut mal vertragen.

Schaut man dann noch bei dem klugen Umweltaktivisten und Filmemacher Andri Snaer Magnason vorbei oder bei dem Vortrag des Kieler Skandinavisten Klaus Böldl über die Welt der mittelalterlichen isländischen Sagas, dann ist ein Literatursommer garantiert, der besser kaum ausfallen kann – und dessen Schirmherr ein gewisser Alfred Gislason ist, was dem Bücherfreund nicht unbedingt etwas sagt: Er ist Trainer des THW Kiel.  FRANK KEIL

www.literaturhaus-sh.de

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