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Blind in Brüssel

„Gehen Sie zu Fahrstuhl F“, sagt eine Stimme. Wie der blinde Leidner dorthin kommt, sagt sie nicht

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Auf seinem Weg zur Arbeit kommt Rüdiger Leidner jeden Morgen am frisch renovierten EU-Kommissions-Gebäude vorbei, dem denkmalgeschützten Berlaymont. An eine Seite der Fassade ist ein großes, buntes Tuch gespannt: „Europe for citizens. Creating opportunities for you. Ergreifen Sie die Chancen.“ Nach allem, was der 57-jährige Beamte bei der EU-Kommission erlebt hat, könnte er sich von dem Text ein bisschen auf den Arm genommen fühlen. Aber er kann das Plakat gar nicht sehen, er ist blind.

Heute Morgen hat es in Brüssel leicht geschneit. Die golfballgroße Kugel unten an Leidners Blindenstock hinterlässt kleine runde Tupfen. „Hier muss ich eine größere Kugel schieben als in Berlin“, lacht er, „die Löcher im Gehweg sind ja auch viel größer.“ Er schiebt den Stock vorsichtig an die Bordsteinkante eines turbulenten Kreisverkehrs. Ein akustisches Signal sollte eigentlich anzeigen, wann die Ampel auf Grün springt. Aber es bleibt stumm.

In dem Viertel in Berlin, wo Leidner bis vor vier Jahren gewohnt hat, waren die Ampelanlagen perfekt. U-Bahn-Stationen werden über Lautsprecher angesagt, auf den Bürgersteigen gibt es deutlich weniger Stolperfallen, und Fußgänger haben bei Grün tatsächlich Vorrang. „Aber in Brüssel sind die Leute netter“, findet Leidner. „Sie nehmen sich mehr Zeit, haben auch keine Hemmungen, zu fragen, ob ich Hilfe brauche.“

Der starke Verkehr in Europas Hauptstadt ist berüchtigt. Vom Jahr für Chancengleichheit, das die EU-Kommission für 2007 ausgerufen hat, merkt man hier noch nichts. Gleichbehandlung und ein Leben ohne Diskriminierung – davon ist zumindest in Brüssel wenig zu spüren.

Leidner arbeitet in der EU-Kommission in der Tourismusabteilung, sein Spezialgebiet ist „barrierefreier Tourismus.“ Damit kennt er sich aus. Wer ein Gebäude wie das Berlaymont für Behinderte barrierefrei gestalten will, braucht sich nur in deren Situation hineinzuversetzen. Oder sie um Rat zu fragen. Bei der 670 Millionen Euro teuren Renovierung hat aber wohl niemand Zeit gefunden, einen Vertreter des Blindenverbands zu befragen. Kommissions-Pressesprecher Maximilian Strotmann sagt: „Das Berlaymont ist barrierefrei. Sie kommen mit dem Rollstuhl überallhin.“

Diesen Satz hat Leidner schon oft gehört. Menschen, die nicht sehen können, stehen aber andere Hindernisse im Weg als Menschen, die nicht laufen können. Abgesenkte Bordsteinkanten etwa: Für Rollstuhlfahrer sind sie eine große Hilfe, Blinde hingegen brauchen zur Orientierung Oberflächenveränderungen.

Großflächig dehnt sich der honigfarbene Sandsteinboden im Berlaymont-Gebäude. Er zieht Besucher auf leicht abschüssigem Gelände in das Haus hinein. Hinter Glasschiebetüren setzt sich die warm leuchtende Oberfläche in der Eingangshalle fort. Leidners Stock kratzt hier völlig orientierungslos auf dem Boden. Nirgendwo eine Kante, eine Rille, ein Merkmal, das ihm verraten würde, wo er sich befindet. Ohne fremde Hilfe schafft er es nicht mal bis zum Eingang, aber auch nicht von dort zur Rezeption oder zum Fahrstuhl. Der verfügt immerhin über einen Behindertenknopf, allerdings lässt sich das eingravierte Rollstuhlsymbol darauf kaum ertasten. Im Display erscheint die Fahrstuhlnummer, was Leidner wenig nützt. Erst nach mehreren Versuchen sagt eine Stimme: „Gehen Sie zu Fahrstuhl F.“ Wie er dorthin kommt, sagt sie nicht.

In der EU-Kommission arbeiten nur wenige blinde Mitarbeiter. Wie viele, will die Pressestelle nicht sagen – „Arztgeheimnis“. Auf die Frage, welche Kriterien für das Arbeitsumfeld Behinderter gelten, antwortet Strotmann: „Hier gibt es natürlich Schwachstellen. Es hängt häufig auch vom zur Verfügung stehenden Budget ab. Dazu kommt, dass viele Gebäude gemietet sind und sich die Kommission mit dem Vermieter einigen muss. Neuere Gebäude sind erheblich besser grundausgestattet.“

Blinde Dolmetscher, die bei ihrer Arbeit die funkelnagelneue Grundausstattung im Berlaymont täglich testen können, bezeichnen das Gebäude als „Albtraum“. Ihren Namen in der Zeitung lesen wollen sie allerdings nicht, aus Angst vor beruflichen Nachteilen.

Rüdiger Leidner arbeitet in einem älteren Hochhaus, das kürzlich renoviert wurde. Die Eingangshalle ziert ein glänzender, schwarzweiß gestreifter Marmorboden, auf den Etagen riecht es nach frischer Farbe und neuer Auslegeware, Wände wurden versetzt. Hier wurde offensichtlich an nichts gespart. Dennoch dauerte es Monate, bis auf den Marmorboden unauffällige, aber wunderbar tastbare gummierte Riffel geklebt wurden, die zum einzigen Aufzug mit Sprachansage führen. Hat es Leidner dorthin geschafft, wird es spannend. Denn die Sprachansage ist so geschaltet, dass sie zunächst das Öffnen der Tür meldet, dann erst die Etage ansagt. Da muss der 57-Jährige ganz schön springen, um nicht von den schließenden Türen eingeklemmt zu werden. Auf tastbare Büroschilder, die ihm den Weg zu seinen Kollegen erleichtern würden, wartet er bis heute.

Zum Glück ist Leidner keiner, der sich entmutigen lässt. Vielem kann er eine komische Seite abgewinnen. Wenn ihn etwa ein geriffelter Leitstreifen im Bürgersteig direkt gegen die nächste Hauswand führt, dann merkt er sich das fürs nächste Mal. Da hat eben ein gedankenloser Beamter vom Tiefbauamt irgendwie das vorgeschriebene Quantum Blindenplatten verbaut. Gemein findet er Schilder, die in Kopfhöhe angebracht sind. Und wenn sein Stock einem Passanten zwischen die Beine fährt, zuckt er die Achseln: „Der muss eben ausweichen.“

Rüdiger Leidner hat Eigenschaften, die jeder Arbeitgeber schätzt: Er ist motiviert und mobil. Als in Bonn 1992 Freiwillige für Berlin gesucht wurden, meldete er sich als einer der Ersten. Seine einzige Bedingung: Blindengerecht sollte sein neuer Arbeitsplatz sein. Keine Fahrräder sollten ihm im Weg stehen, keine umgeschlagenen Teppichkanten sein Leben erschweren. Und für seine Assistentin brauchte er ein zusätzliches Arbeitszimmer.

Als er sich zehn Jahre später für die befristete Stelle in der EU-Kommission bewarb, stellte er nur wenige Bedingungen. „Ich wollte meine Bewerbung nicht durch zu viele Forderungen belasten.“ Sein damaliger Referatsleiter machte ihm Mut. Auf Leidners Frage, wer die Assistentin bezahlt, antwortete er: „Das darf keine Rolle spielen.“ Der sei damals so selbstverständlich mit diesen Fragen umgegangen, schwärmt Leidner noch heute. „Erst später erfuhr ich, dass seine Exfrau Blindenlehrerin war.“

So viel Gelassenheit und Flexibilität hat er seither nicht mehr erlebt. Als er ein Projekt über wirtschaftliche Effekte von barrierefreiem Tourismus anregte, das er eigentlich hätte leiten sollen, zog sein Chef die Sache an sich. Er könne ja die Ausschreibung gar nicht durchführen, da er das Datum des Poststempels nicht verifizieren könne, begründete dieser die Abfuhr.

Schon in Berlin hatte er Ähnliches erlebt. „Derselbe Mensch, der mich als Kollege ganz normal behandelt hat, entscheidet als Vorgesetzter völlig anders.“ Bei einem Bewerbungsgespräch wurde er gefragt, ob er überhaupt E-Mails lesen und Dienstreisen unternehmen könne. Die Frage kam von einem Vorgesetzten, der zuvor sein Kollege war und sich mit ihm regelmäßig per E-Mail ausgetauscht hatte – unter anderem über Erkenntnisse, die Leidner auf Dienstreisen gewonnen hatte.

Seine Büroausstattung hat er nach Brüssel mitgebracht. Eigentlich verbieten das die internen Vorschriften, doch die Bürokraten machten wundersamerweise eine Ausnahme. Sein Computer liest ihm die Zeilen vor, die er mit dem Tabulator ansteuert. Zugleich erscheinen sie unter der Tastatur in Brailleschrift. Oder er lässt sich den Text vom Spezialdrucker auf Papier stanzen. Das macht Krach, weshalb er auf der Trennwand zum Zimmer seiner Assistentin bestehen muss.

Die nimmt ihn manchmal morgens mit zur Arbeit. Abends aber macht er sich oft allein auf den Weg. Zu seinem Dojo zum Beispiel. In dem kleinen Sportclub in einem Brüsseler Hinterhof wird die ehrwürdige japanische Kampfkunst Aikido gelehrt, gewürzt mit einer guten Portion asiatisch angehauchter Spiritualität. Wenn die weiß gekleideten, barfüßigen Schüler sich vor dem Foto des langbärtigen Meisters verneigen, ignoriert Leidner das. Er merkt an der Luftbewegung, was die anderen da tun, aber er findet das Zeremoniell albern. In seinem Dojo in Berlin gab es solchen Firlefanz nicht, sagt er.

Dojo-Leiter Jean-Claude Menet ist stolz auf seinen ungewöhnlichen Schüler. Wie ein Zirkusdirektor, der seinen Lieblingslöwen vorführt, zeigt er auf den Deutschen und sagt: „Sehen Sie: Er hat ein Defizit bei der Orientierung im Raum, auch beim Gleichgewicht. Aber er will in der Aktion die Oberhand behalten. Er lernt jetzt seit sieben Jahren, doch die Behinderung führt dazu, dass er das Niveau dieses Jungen dort erreicht hat, der seit drei Jahren lernt.“

Auch beim Aikido zeigt sich, dass Leidner sich nicht gern unterkriegen lässt. Als er die neue Bewegungsabfolge verstanden hat, drückt er seinen Gegner auf die Matte, ein triumphierendes Leuchten huscht über sein Gesicht. „Bald geht er zurück nach Berlin“, sagt sein Lehrmeister, „wir hoffen, dass er uns in guter Erinnerung behält.“ Da braucht er sich keine Sorgen zu machen. Die Belgier haben den Deutschen sehr freundlich aufgenommen. Weniger entgegenkommend zeigten sich die, die sich Chancengleichheit als politische Forderung auf die Fassade geschrieben haben.

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