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Wenn Buchstaben tanzen

ANALPHABETISMUS 170.000 erwachsene Hamburger können laut einer Uni-Studie nicht richtig lesen und schreiben. An mangelnder Intelligenz liegt es nicht. Die Volkshochschule Hamburg bietet Analphabetenkurse an

VON GUNNAR MATZEN

Eine Studie der Universität Hamburg über Analphabetismus hat die Bildungsrepublik erschüttert: 7,5 Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren haben eine Lese- und Rechtschreibschwäche, fast doppelt soviel wie angenommen. Das sind 14 Prozent der erwerbsfähigen Menschen in Deutschland. „Das ist eine Größenordnung, die keine Nische mehr darstellt“, erklärte CDU-Bildungsministerin Annette Schavan.

In Hamburg sind 170.000 Erwachsene Analphabeten. Hinter dieser Zahl verbergen sich Geschichten und Schicksale, die die Alphabetisierungsexpertin Almut Schladebach kennt: „Da stehen dann schon mal gestandene Männer vor einem, die einem beichten, nie richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben“, berichtet die Mitarbeiterin des Grundbildungszentrums der Hamburger Volkshochschule, das in Billstedt sitzt.

Oder es kommen verzweifelte Jugendliche, die bereits mehrmals ihren Ausbildungsplatz verloren haben, wegen der vielen Rechtschreibfehler in Berichten und weil sie zu langsam sind, eine Gebrauchsanweisung zu entziffern. Mangelnde handwerkliche Fähigkeiten sind meistens kein Grund, warum die Betroffenen ihren Arbeitsplatz verlieren, berichtet Schladebach: „Jedoch müssen Handwerker heute einen Computer bedienen können.“

Die Ursachen für Analphabetismus sind vielfältig: Schwierige familiäre Verhältnisse oder individuelle Störungen wie Legasthenie können der Grund sein. An mangelnder Intelligenz liegt es jedenfalls nicht.

„Ein W, ein I. Dann zappelt ein E vor seinen Augen. Die Striche zerfließen zu Brei.“ So beschreibt Schladebach die Situation eines Betroffenen, der gerade die ersten Leseschritte macht. Wörter würden stets nach Wortlaut geschrieben. „Mumentahn“, „dar herr“ oder „betrift“ sind einige Beispiele.

Seit 1980 bietet die Volkshochschule Hamburg Alphabetisierungskurse an. Das Angebot wendet sich in erster Linie an lern-ungewohnte deutschsprachige Erwachsene, die nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben können. Derzeit gibt es 24 Lese- und Schreibkurse auf fünf unterschiedlichen Lernstufen. Pro Semester nehmen knapp 200 den Grundkurs wahr.

„Ungefähr die Hälfte davon lebt von Hartz IV. Hilfsjobs gibt es doch kaum noch“, sagt Schladebach. Ein Kurs mit 52 Unterrichtsstunden kostet 81 Euro. Seit diesem Semester sind die Kurse für Empfänger von Arbeitslosengeld II kostenlos. Berufstätige zahlen zwischen 1,56 Euro bis 2,20 Euro pro Unterrichtsstunde, je nach Lernstufe. Die Gruppen sind klein, meist zwischen sechs bis acht Erwachsene.

Die Mehrheit der Teilnehmenden (70 Prozent) ist zwischen 24 und 49 Jahre alt, viele fallen in die Kategorie „funktionaler Analphabetismus“. So heißen Menschen, die Buchstaben kennen, aber an Sätzen und Texten scheitern. Auffällig ist dabei, dass der Großteil dieser Gruppe (80 Prozent) einen Schulabschluss haben. Jeder Achte sogar einen höheren Bildungsabschluss. Der Anteil von Männern und Frauen ist in den Kursen ungefähr gleich. Im Bundesdurchschnitt sind jedoch mehr Männer (60,3 Prozent) von Analphabetismus betroffen, ältere stärker als jüngere Menschen.

Das Haus der Volkshochschule in Billstedt versteckt sich in einem Hinterhof, abseits der vielbefahrenen vierspurigen Schnellstraße. Die Lage sei „fast bezeichnend für das Tabuthema Analphabetismus“, sagt Schladebach. Entscheide sich ein Betroffener Hilfe zu holen, geschehe dies oft auf Druck aus dem privaten Umfeld – von Eingeweihten, die sonst bei alltäglichen Problemen wie dem Lesen von Briefen oder Ausfüllen von Formularen helfen.

„Analphabeten behelfen sich auch oft mit Ausreden“, berichtet Andreas Brinkmann vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung. „Sie versuchen sich fotografisch Straßenschilder oder die Farbe ihrer Buslinie zu merken, um sich zu orientieren.“ Das sei einer der Gründe, warum so viele es schaffen, die Lese- und Rechtschreibschwäche vor ihrer Umgebung lange zu verbergen.

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