: Muss die Fifa Russland die WM wegnehmen?Ja
SANKTION In vier Jahren wird Russland die WM austragen. Doch Kritiker fordern angesichts der fragwürdigen Rolle des Landes im Ukraine- Konflikt eine Neuvergabe
Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.
Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.
Marina Weisband, 26, ist ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei
Ich bin kein Experte und wage kein Urteil darüber, ob die russische Regierung die Separatisten in der Ost-Ukraine mit Waffen versorgt oder nicht. Aber eins weiß ich sicher: Wenn Putin wollte, könnte er den Konflikt mit wenigen Worten beilegen. Entzieht er den Separatisten öffentlich jede Unterstützung, haben sie kein Ziel mehr. Russland die WM wegzunehmen ist ein Zeichen, das besonders an russische Bürger geht. Sie feiern ihre Regierung gerade dafür, mit Waffen Grenzen in Europa zu verschieben. Während dieser Feiern werden demokratische Freiheiten beschnitten. Die Fifa könnte ausnahmsweise moralisch handeln und eine symbolische Grenze aufzeigen. Vielleicht fangen russische Bürger dann an, die international isolierende Politik ihrer Regierung zu hinterfragen.
Marcus Urban, 42, war der erste geoutete Fußballspieler in Deutschland
Warum muss ein Sportgroßereignis an eine Regierung vergeben werden, die Menschenrechte mit Füßen tritt? Nimmt man die Verletzung der Menschenrechte als Maßstab, dürfte in so gut wie keinem Land ein Sportgroßereignis stattfinden. Aber die Intensität und Tragweite der Diskriminierungen könnte über ein „Ja“ oder „Nein“ bei der Vergabe mit entscheiden. Schauen wir uns die Entwicklungen der letzten Jahre an, müsste man Russland klar als Austragungsort ausschließen. Man könnte positiven Druck ausüben, um etwas Gutes für die Menschen zu erwirken, aber wo ist er? Die Führung der Fifa hat sich mit dieser WM-Vergabe einen Bärendienst erwiesen. Wenn sie in den nächsten Jahren nicht einen 180-Grad-Wechsel vollzieht, muss sie eventuell ausgewechselt werden. Sie bildet schon lange nicht mehr die Wünsche und Hoffnungen weltweit fußballbegeisterter Fans, Vereine und Verbände ab.
Volker Beck, 53, ist innenpolitischer Fraktionssprecher von Bündnis 90/Die Grünen
Internationale Sport- und Kulturorganisationen müssen bei der Wahl ihrer Gastländer die Menschenrechtsfrage ernster nehmen. Wenn bei der Errichtung von Sport- und Kulturstätten Vertreibungen stattfinden oder Wanderarbeiter wie Sklaven behandelt werden, ist eine rote Linie überschritten. Legt man menschenrechtliche Maßstäbe an, hätte es eine Vergabe der Olympiade nach Sotschi oder der WM nach Russland gar nicht erst geben dürfen. Seit Beginn der ersten Präsidentschaft Putins befinden sich die Menschenrechtslage und der russische Rechtsstaat in einem kontinuierlichen Zerfall. Völlig inakzeptabel ist eine Durchführung von Weltmeisterschaften in einem Land, das gerade einen Teil seines Nachbarstaates völkerrechtswidrig annektiert hat und in anderen Teilen des Nachbarlandes einen Bürgerkrieg befeuert. Lenkt Russland nicht ein, muss die Fifa Russland die WM entziehen.
Uwe Roos, ist taz-Leser und hat den sonntaz-Streit per Facebook kommentiert
Die Zyniker unter den Sportfunktionären sind sich einig, dass sportliche Großereignisse in totalitären Ländern am besten zu organisieren sind. Keine lästigen Bürgerrechte und eine Polizei, die das Volk mit Gewalt bei Laune hält. Das hat früher (Argentinien 78) und heute (Brasilien 14) funktioniert. Die gleichen Mechanismen werden auch in Russland und vier Jahre später in Katar greifen. Die Fifa in die Verantwortung zu nehmen ist vergeblich. Spätestens mit dem Anpfiff ist die sportliche Glückseligkeit wieder hergestellt und Berichte über Menschenrechtsverletzungen stören nur die Party.
Nein
Theo Zwanziger, 69, ist ehemaliger DFB-Präsident und Mitglied im Fifa-Exekutivkomitee
Natürlich sind wir alle tief betroffen von den Geschehnissen im Osten der Ukraine. Der Sport hat durchaus auch die politische Aufgabe, für Menschenrechte einzutreten und gegen Diskriminierung zu kämpfen. Aber er kann nicht in vorauseilendem Gehorsam eine derart schwerwiegende Sanktion ergreifen, bevor die Staatengemeinschaft selbst eine überzeugende Sanktionsstrategie entwickelt hat. Der Sport würde damit seine eigene völkerverbindende Kraft relativieren und aufgeben. Außerdem sind Sportsanktionen in der Vergangenheit bislang wenig erfolgreich gewesen. Als die WM vor vier Jahren an Russland vergeben wurde, hatte die Fifa keine Ausschreibungskriterien, in denen Menschenrechte eine Rolle spielen. Das muss sich nach meiner Auffassung dringend ändern. In Zukunft muss auf die soziale und gesellschaftliche Struktur eines möglichen Ausrichterlandes sehr viel mehr Wert gelegt werden. Der Sport kann und muss nach meiner Meinung mit seinen Großereignissen helfen, inakzeptable Verhältnisse zu verbessern. Also darf er nicht wegbleiben, sondern muss hingehen, sich bewusst auch mit Oppositionsgruppen treffen, mit Fernsehkameras und Journalisten Minderheiten ein Gesicht geben und sagen: „Wir sind auf eurer Seite.“ Das ist eine Hilfe. Boykottieren, weggucken und unterdrückte Minderheiten alleinlassen führt nicht weiter.
Dorothea Schäfer, 57, ist Forschungsdirektorin Finanzmärkte am DIW Berlin
Das sollte die Fifa zum jetzigen Zeitpunkt nicht tun. 2018 ist viel zu weit weg. Die russische Regierung wird deswegen ihre jetzige Ukraine-Politik nicht ändern. Russland muss dann nicht das viele Geld aufwenden, um die Infrastruktur WM-tauglich zu machen, und kann den Westen außerdem der unzulässigen Vermischung von Sport und Politik bezichtigen. In der momentan aufgeheizten Stimmung bringt das der russischen Führung eher Pluspunkte bei der eigenen Bevölkerung ein. Wirkungsvoller wäre es, sich die Option offenzuhalten, gegebenenfalls auch kurzfristig handeln zu können.
Olaf Opitz, 49, ist Gründer der Band Apparatschik (ukrainisch-russische Tanzmusik)
Russland soll die WM behalten, damit die Distanz zum Westen nicht noch größer wird. In der ehemaligen Sowjetunion denkt man immer noch anders. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs hatten viele die Hoffnung, dass der Ost-West-Konflikt damit beigelegt ist – er ist aber geblieben. Putin will nicht zulassen, dass die Nato ihm den wichtigsten Militärstützpunkt wegnimmt. Es steht außer Frage, dass Putin das Völkerrecht verletzt hat, aber der Westen hat die Krise mitverschuldet. Bis vor Kurzem habe ich gehofft, dass der Konflikt beigelegt werden kann, jetzt habe ich Angst vor der Zukunft.
Bella Hahn (36) Sängerin und Vocal Coach, lebt seit zwei Jahren in Deutschland
Ich bin erstaunt, dass europäische Politiker diese Frage debattieren. Misstrauen erzeugt Misstrauen, Gewalt erzeugt Gewalt. Jede unbedachte Aktion kann negative Konsequenzen haben. Wer möchte, dass sich unsere Völker verfeinden? Mein Vater, Fan der deutschen Mannschaft, freut sich sehr auf die WM 2018. Wird diese neu vergeben, wird das Missverständnis zwischen unseren Ländern größer. Russland und Europa müssen einander ergänzen, wir sind Nachbarn. Ich hoffe sehr, dass die europäischen Politiker ihre Entscheidungen unabhängig von den USA treffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen