piwik no script img

Das Experiment

FLÜCHTLINGE Vor einem halben Jahr eröffnete Hoyerswerda das erste Asylbe- werberheim seit dem Pogrom 1991. Die Stadt hätte gern ein Vorzeigeprojekt daraus gemacht. Warum klappt das nicht? Eine Langzeit-beobachtung

Hoyerswerda

■ Landkreis: Bautzen

■ Name auf Obersorbisch: Wojerecy

■ Stadtrecht seit: 1432

■ Einwohner: 34.611

■ davon Ausländer: 455

■ Sehenswürdigkeiten: Altstadt mit Lessinghaus, Lausitzer Seenland, Bergbaumuseum

■ Gäste 2012: 19.498, die meisten aus den Niederlanden, Schweden, Dänemark, Ungarn, Österreich oder der Schweiz

■ Größte Sportvereine: Sportclub Hoyerswerda e. V., Kraft und Figur e. V., FSG Medizin e. V.

■ Geschichte: Am 17. September 1991 greifen Neonazis auf dem Marktplatz Vietnamesen an. Die flüchten in ein Wohnheim. Neonazis werfen Steine. Einen Tag später kommen sie mit Molotow-Cocktails. Anwohner sehen zu oder klatschen Beifall. „In Hoyerswerda hat der häßliche Deutsche sein Coming-out“, schreibt der Spiegel.

■ Gegenwart: Anfang Februar 2014 ziehen Flüchtlinge in das neu eröffnete Asylbewerberheim in Hoyerswerda. Wenig später beginnen erste Übergriffe.

AUS HOYERSWERDA KRISTIANA LUDWIG (TEXT) UND BJÖRN KIETZMANN (FOTOS)

Als es draußen knallt, macht Samira Hammad das Licht aus. Männer rennen und rufen. Frauen schreien, Glas bricht. Leise löscht sie die Lampen. Im Dunkeln harrt sie aus.

Die Mädchen sind aufgewacht, sie weinen. Wo bleibt die Polizei?

Den Schrank aus Metall hat Hammad in ihrem Zimmer im Asylbewerberheim von Hoyerswerda längst vor die Tür gerückt. Sie können sie nicht abschließen und sie können hier nicht raus. Die Straßen sind nachts zu gefährlich, genauso wie die Flure im Haus, wenn die Männer betrunken sind.

Es ist ein Samstag im April 2014 und Samira Hammad ist neu in dieser Stadt, deren Namen sie zuvor genauso wenig gehört hatte wie den Namen von Schneeberg, wo sie vorher mit ihrer Familie wohnte. Hoyerswerda. Hammad weiß nicht, wie dieser Ortsname nachhallt, wenn man ihn in Deutschland ausspricht. Herbst 1991, Randale gegen Ausländer. Neonazis greifen zwei Wohnheime an. Weder Nachbarn noch Polizisten schreiten ein. „Hoyerswerda“ wie: Alle schauen zu, niemand tut etwas.

Jetzt, 23 Jahre später, soll Samira Hammad eigentlich ein anderes Hoyerswerda kennenlernen. Aber draußen knallt es wieder.

Der Pfarrer gründet ein Bündnis für Toleranz

Vier Monate früher, ein Stockwerk tiefer. Im Foyer der ehemaligen Förderschule, die nun eine Flüchtlingsunterkunft werden soll, drängen sich im Januar knapp sechzig Menschen. Kamerateams haben einen Halbkreis gebildet, in dessen Mitte ein Dezernent vom Landratsamt steht und seine Eröffnungsrede in ein Mikrofon spricht. Ausländerfeindlichkeit? „In keiner anderen Stadt wurden die Vorfälle so gut aufgearbeitet wie in Hoyerswerda.“ Woran man das merkt? Am Bürgerbündnis „Hoyerswerda hilft mit Herz“, sagt er.

Erstmals seit Anwohner damals fast alle Asylbewerber und Gastarbeiter aus der sächsischen Stadt vertrieben hatten, hat der Landkreis wieder Flüchtlinge einquartiert. Er hat Betten in ehemaligen Klassenräumen aufgestellt. Bei der Einweihung des Heims präsentiert sich der Bürgermeister von Hoyerswerda mit Kirchenvertretern, Vereinen und Ehrenamtlichen. Das Bürgerbündnis soll die Stadt schmücken. Die neue Betreiberfirma European Homecare GmbH hat Stockbetten aus Metall aufgestellt, zur Ansicht. Bloß keinen Neid aufkommen lassen. Am Eingang stehen Wachmänner.

Jörg Michel, der Pfarrer, hat auf diesen Tag hingearbeitet. Sein Bündnis hat jetzt ein Herz aus Puzzleteilen als Logo, eine Webseite und eine Facebook-Präsenz. Auf einem Tisch steht Kuchen, Infozettel sind in Folie eingeschlagen. „Was können wir den Bewohner_innen im Heim anbieten?“ steht über einer Liste mit Sportangeboten, Kleiderspenden und Deutschkursen.

Ein halbes Jahr nach der Eröffnung wird Samira Hammad versuchen, mit ihrer Familie aus dem Heim zu fliehen, aus Hoyerswerda.

Hammad ist zierlich, die Haut ihrer Wangen ist glatt, es ist kaum zu erraten, dass sie schon Mutter von zwei Kindern ist. Sie lässt den weinroten Stoff ihres Kopftuchs durch zwei Finger gleiten, während sie spricht. Wenn sie nur nach Berlin könnten. Dort finden die Leute nicht hässlich, wie sie sich kleidet. Das hat sie oft gehört.

Im Februar ziehen Hammad, ihr Mann Issam und ihre beiden Kinder ein. „Das Zimmer ist gut“, sagt sie. Alles wirkt neu und sauber. Es gibt genug Waschbecken, zwar zu wenig Toiletten, aber das Haus im sächsischen Schneeberg war schmutziger.

Hoyerswerda, Sachsen, liegt mehr als 2.600 Kilometer von Hammads Heimatstadt Aaqbiye im Libanon entfernt. Sie wollten weg vom syrischen Krieg, der immer mehr zum Krieg der Schiiten in ihrem Dorf wurde.

Elke Thiel kennt den Krieg nur aus dem Fernsehen. Die Flüchtlinge, die von dort in ihre Stadt kommen, beobachtet sie aus sicherer Entfernung. Genau wie damals. Jetzt geht das schon wieder los, denkt sie.

18. September 1991. Sie steht in ihrem Wohnzimmer. Die Stiefel auf dem Asphalt kann sie hören. Thiel geht nicht zum Fenster. Ihre Kinder sollen nicht neugierig werden, nicht hinunterlaufen, wie die Nachbarn. Die Albert-Schweitzer-Straße im Zentrum von Hoyerswerda ist voller Neonazis – und sie zünden Thiels Wohnblock an. Doch sie hat keine Angst. Sie lebt ja im deutschen Abschnitt.

Die Bilder von 1991 haben alle noch im Kopf: die verkohlten Fenster, der Mob vor dem Plattenbau. Die Mosambikaner und Vietnamesen, die in Bussen fortgebracht werden, weil Polizisten sie nicht schützen können. Die Bürger von Hoyerswerda, die applaudieren. Damals war Thiel 42, heute ist sie 65. Jetzt geht das schon wieder los.

Elke Thiel ist keine Frau, die schüchtern wirkt. Sie hat volles, dunkles Haar, einige Strähnen färbt sie violett. Sie hat mittlerweile eine andere Wohnung, mit Balkon, in einem Reihenhaus. In der Küche sitzt sie zwischen Bildern von frisch eingeschenktem Cappuccino. Aber auch heute traut sie sich nachts nicht auf die Straße.

Tagsüber sieht sie ja die Schmierereien der Neonazis an den Häuserwänden. Dazu Drogenabhängige und jetzt auch noch Asylbewerber. Im Radio hört sie von ihnen, selten Gutes.

Der deutsche Winter ist kalt. Vor einer Woche sind sie eingezogen. Samira Hammad tritt auf dem Weg zum Einkaufscenter immer noch auf graue Schneereste. Die Geschichte, die ihr Mann Issam über den Jungen aus dem dritten Stock erzählt hat, macht ihr Sorgen. Ein Marokkaner, vielleicht 18, wurde auf dem Marktplatz angegriffen. Ein Deutscher hat ihn geschlagen. Erst auf den Hinterkopf, dann nachgetreten, in die Nieren.

In der Nacht steht ein Auto vor dem Heim. Junge Männer steigen aus. Sie rufen: „Fuck you! Ausländer raus!“

Samira und Issam Hammad entscheiden, dass ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung stehen sollen. In Wahrheit heißen sie anders. Sie bleiben lieber unerkannt.

Nach dem Angriff auf den Marokkaner tippt Pfarrer Jörg Michel eine E-Mail. „Mahnwache“, schreibt er. Der Verteiler, über den er noch vor einer Woche das Bürgerbündnis um Kuchen für die Heimeröffnung bat, soll die Helfer jetzt auf die Straße holen. Er zieht sein rotes T-Shirt an – Schriftzug: „Initiative Zivilcourage“ – und lässt die Jacke offen, trotz Kälte.

Die Nachbarin sagt öffentlich lieber gar nichts

Michel, breite Schultern, Vollbart, parkt seinen blauen Kombi am 8. Februar um Punkt 15 Uhr in der Einfahrt des Asylbewerberheims. Kofferraum auf – mit elastischen Schritten verteilt er die langen Plastiktransparente unter den Wartenden: „Raum für Menschlichkeit und Nächstenliebe“. Etwa vierzig ältere Leute aus dem Ort sind gekommen und einige jüngere aus Dresden. Er geht auf die andere Straßenseite und knipst ein Foto.

Den Fernsehteams von MDR und ZDF, die in der vergangenen Woche die leere Unterkunft filmten, hat er diesmal nicht Bescheid gesagt. „Das hier ist nur für uns“, sagt er. Angriffe auf Ausländer? Solche Berichte braucht niemand in Hoyerswerda, der Stadt mit Herz.

Den Journalisten, die trotzdem gekommen sind, erklärt die Sprecherin des Bündnisses, dass es sich bei dem Schläger um einen Süchtigen handelt – nicht um einen Rechten. Einer jungen Frau aus Dresden flüstert sie es ins Ohr. Obwohl die Polizei sagt, der Grund für den Streit war „eine gegensätzliche Auffassung darüber, wie man die Freundin eines anderen anzusehen habe“.

Die Medien können einiges anrichten, findet Elke Thiel. Ihr Küchenradio spielt Elsterwelle Hoyerswerda, und was sie da durchsagen, findet sie gefährlich: Nur ein einziger Streifenwagen war hier in der Nacht unterwegs, als vor zwei Jahren Neonazis ein junges Paar vor deren Wohnung bedrohten. Ein einziger. Diese Kerle hören doch auch Radio. Die sind doch auch nicht blöd, denkt sich Thiel.

Im Januar standen acht von ihnen vor Gericht. Die Opfer sind längst weggezogen: Sie fühlten sich von der Polizei nicht ausreichend beschützt in Hoyerswerda. Ausgerechnet.

Der 20. März 2014 fühlt sich an, als sei schon Sommer. Als sie das Lausitz-Center verlässt, sieht Thiel die Leute auf den Bänken in der Sonne sitzen. Großmütter haben ihre Rollatoren vor die Beine gezogen. Kinderwagen stehen zwischen Blumenhändlern und Obstständen. Alle lauschen einer Stimme, die durch massive Lautsprecherboxen über den Marktplatz schallt: „Deutschland ist nicht das Sozialamt der Welt, und dazu wären wir auch gar nicht in der Lage“, sagt ein Herr, der auf der Hebebühne eines Lastwagens steht.

Ein junger Mann im himmelblauen Shirt verteilt Handzettel: „Darf ich Ihnen etwas zu lesen mitgeben?“, fragt er. Eine Frau mit weißer Dauerwelle verstaut das Papier der NPD Sachsen in der Ledertasche auf ihrem Schoß. „Mit einigen Sachen haben sie Recht“, sagt sie zu der Dame neben ihr.

Elke Thiel tritt auf den Platz vorm Lausitz-Center. Sie arbeitet dort als Verkäuferin in einer Buchhandlung. Vor Karstadt entdeckt sie den Bürgermeister mit ein paar Offiziellen. Sie pusten in Trillerpfeifen und halten Plakate vor ihre Bäuche. Ein bisschen wenig, findet Thiel und geht weiter.

Auch sie möchte nicht, dass die Leute ihren echten Namen in der Zeitung finden, genauso wenig wie ein Bild von ihr. Öffentlich sagt sie lieber gar nichts.

Hundert Meter weiter findet Jörg Michel das neue Transparent sehr gut. Die Buchstaben „Hoyerswerda hilft mit Herz“ sind fast einen Meter breit. Von den mehr als hundert Helfern im Verteiler hat er an diesem Dienstagvormittag allerdings nicht einmal fünfzig gezählt. Mindestens so viele Nazis haben sich gegenüber auf dem Marktplatz postiert. „Initiative Zivilcourage“ steht auf Michels T-Shirt. Als er die Helfer vor dem Lausitz-Center aufgereiht hat, läuft er rüber zu den Rechten, die vor dem NPD-Wagen stehen. „Na, Jungs!“, ruft er und knipst ein Bild.

Der Pfarrer ist gerade zu den Protestierenden zurückgekehrt, da schlendert eine Gruppe Neonazis auf eine Frau zu, die mit beiden Händen ein Tuch festhält, das an die Kuba-Flagge erinnert. Als sie vor ihr stehen, drehen sie sich zu ihren Kameraden um und strecken die Daumen nach oben. Die machen ein Bild: grinsende Männer und eine erstarrte Frau. Hoyerswerda mag Herz haben, aber das sieht man heute kaum.

Michel weiß, wie die Hoyerswerdschen ticken. Er zog 1993 in das Gemeindehaus in der Neustadt, direkt gegenüber dem berüchtigten Albert-Schweitzer-Wohnblock. Zwei Jahre nach den Ausschreitungen und drei Jahre nach der Schließung der Schwarzen Pumpe. Das ist eigentlich das Wichtigste.

Rund 65.000 Menschen lebten bis zum Ende der DDR in dieser Stadt, die meisten von ihnen in den Wohnkomplexen WK 1 bis WK 10 – in Plattenbausiedlungen, die sich um gleichförmige Kaufhallen und Marktplätze gruppieren. In der Braunkohleverarbeitung gab es damals 15.000 Arbeitsplätze. Als der Volkseigene Betrieb Gaskombinat Schwarze Pumpe 1990 stillgelegt wurde, standen mit einem Mal alle auf der Straße.

„Mein Vater ist arbeitslos“, sagt ein junger Mann im September 1991 in eine ARD-Kamera: „Sie kriegen das Geld in den Arsch geschoben, und mein Vater kriegt gar nichts dafür.“ Da hatten die etwa 600 Gastarbeiter und Asylbewerber die Stadt schon verlassen müssen.

In den Jahren danach treffen sich junge Leute mit rechter Gesinnung dann im WK 10. Tolerierende Jugendsozialarbeit, trotz des Überfalls auf die Diskothek Grubenlampe, zwölf Kilometer außerhalb, bei der ein Neonazi die Kellnerin mit einer Holzlatte erschlägt. Obwohl Skinheads vor dem linken Club Nachtasyl den Fahrer einer Metalband unter einem Transporter begraben.

Für Elke Thiel liegt die Zeit in der Wohnung im Albert-Schweitzer-Block, als sie ihr Geld als Köchin der Schwarzen Pumpe verdiente, lange zurück. Sie hat mit fünfzig noch einmal umgeschult. Ihre Freundin hatte nicht so viel Glück: Sie bekommt Hartz IV. Für eine bessere Wohnung in Hoyerswerda stritt sie mit dem Jobcenter um zwanzig Euro Miete. Keine Chance.

Die neuen Asylbewerber sind erst ein paar Wochen in der Stadt, da sieht Thiel sie volle Einkaufstüten an ihrem Buchladen vorbeitragen. Die arbeiten doch auch nicht. In der Zeitung stand, dass das Landratsamt Bautzen knapp 900.000 Euro ausgegeben hat, um die neue Unterkunft mit Zäunen, Sicherheitsglas und Überwachungskameras auszustatten. Dafür zahlt der Staat also. Ist das fair?

Die Frau im Heim denkt schon wieder an Flucht

Im Heim wohnen jetzt 85 Erwachsene und 32 Kinder. Den Familienflur teilen Samira und Issam Hammad mit einer Irakerin, die allein mit Drillingen nach Deutschland kam, mit einer siebenköpfigen Familie aus Libyen und mit den Syrern. Der Mann spricht gutes Deutsch, er übersetzt. Bei schönem Wetter spielen die Kinder zusammen auf dem ehemaligen Pausenhof der alten Schule. Ein hoher grauer Zaun umgibt ihn.

Issam Hammad unterhält sich auch mit den alleinstehenden Männern, die die Mehrbettzimmer im dritten Stock und im Kellergeschoss teilen. Aber Samira Hammad hält Abstand. Es ist oft laut, wenn sie trinken. Als Frau sollte man hier nachts nicht allein zur Toilette gehen.

Hammad ist Krankenschwester. Spätschichten ist sie gewohnt, die Enge ist neu. Um halb sieben bringt sie die Mädchen ins Bett, dann sitzt sie mit Issam in diesem Raum fest, der ihr Wohnzimmer, ihre Küche und ihr Schlafzimmer zugleich sein muss. In den Nächten sprechen sie über die Geschehnisse in dieser Stadt.

1. April. Junge deutsche Männer haben die Syrerin aus dem zweiten Stock auf dem Weg zum Einkaufen angespuckt und angeschrien.

12. April. Der Libyerin aus dem Zimmer nebenan fuhren sie mit einem Auto nach, bis auf den Bürgersteig. Sie sprang zur Seite.

Auch die Tunesier spucken sie an, wenn sie in Gruppen unterwegs sind. Im Heim kennen alle die Blicke der Leute. Die Rufe,die Pfiffe. Nachts schmeißen sie leere Flaschen über den Zaun.

„Die Menschen hier sind nicht gut“, sagt Samira Hammad.

Im Eingang von Jörg Michels Gemeindehaus stapeln sich die Pappkartons. Spielzeug, Stofftiere, Kleidung. Ein Kinderfahrrad, ein Roller – die Bürger tragen ihre Spenden kistenweise zu ihm. Nachdem die Asylbewerber schon ein paar Monate hier wohnen, haben sich auch die Hilfsdienste eingependelt. Pensionierte Lehrer geben zwei Mal in der Woche Deutschunterricht, andere betreuen währenddessen die Kinder.

Einige Helfer haben die älteren Flüchtlinge zum Fußballspielen abgeholt. Zwei Mal kamen die Männer mit – beim dritten Mal vergaßen sie es schon wieder. Das Leben im Heim macht lethargisch – das hatten sich manche Bürger anders vorgestellt. Bei den Helfern lässt langsam die Kraft nach, Michel spürt es.

Die Ausländer klauen im Globus-Markt. Sie belästigen die Frauen und Mädchen hier. Das erzählen alle, und Elke Thiel hat selbst erlebt, wie sie glotzen. Einer von denen hat ihr tatsächlich auf den Hintern gehauen, sagt sie. Wenn das wirklich Kriegsvertriebene sind, dann sollen die sich auch ordentlich verhalten, findet sie. Schließlich sind das ihre Steuergelder.

16. April 2014, 19.01 Uhr. „Aufgrund der negativen Vorfälle, die durch einzelne Bewohner des Heimes verursacht wurden, und aufgrund der Übergriffe gegen uns Heimbewohner wenden wir uns an Sie, die Bürgerinnen & Bürger von Hoyerswerda. Wir – sind Flüchtlinge aus Marokko, Tunesien, Iran, Libyen, Syrien, Libanon, Tschetschenien, Indien, Pakistan und Serbien.“ Das Bürgerbündnis veröffentlicht den offenen Brief auf seiner Facebook-Seite, „damit nicht alle Heimbewohner damit verurteilt werden“. 55 Lesern gefällt das. 35.000 Einwohner hat Hoyerswerda. Die Facebook-Präsenz „Nein zum Heim in Hoyerswerda“ hat mehr als 2.000 Fans.

Es muss schnell gehen, Issam Hammad überlegt nicht lange. Er packt beide Mädchen, unter jedem Arm eines, und rennt. Die Große ist sechs, die Kleine erst zwei, er schafft das. Samira zieht den leeren Kinderwagen hinter sich her. Im Laufschritt vom Globus-Markt bis zum Heim. Männer folgen ihnen, die rufen und johlen, bis sie hinter den Zäunen verschwinden. Es ist der Nachmittag des 18. April 2014.

Samira Hammad hat Mühe, an diesem Abend einzuschlafen. Um 3 Uhr morgens ist sie wieder wach.

Der Krach ist unerträglich. Unten auf der Wiese steht ein Mann, der mit einem Hammer auf eines der Erdgeschossfenster einschlägt, zehn, zwölf Mal. Er hat eine rote Sturmhaube über das Gesicht gezogen. Es dauert nicht lange, und Hammad hört den schrillen Ton der Sirene. Feueralarm.

Sie heben die Kinder auf die Arme und laufen, raus aus dem Zimmer, raus aus dem Gebäude. Als mehr als hundert Menschen sich auf dem Vorplatz versammelt haben, verschwindet der Angreifer. Zwanzig Minuten später kommen zwei Polizisten mit einem Fotoapparat.

Vor dem Balkon von Elke Thiel trägt der Baum jetzt wieder grünes Laub. Sonne fällt auf die weißen Ornamente ihrer Küchentischdecke. Es ist Mai geworden, Thiel liest Zeitung. Sie wohnt wenige Straßen vom Asylbewerberheim entfernt, aber im Grunde erfährt sie nur durch die Presse, was dort vor sich geht.

„Begegnungsfest im Hoyerswerdaer Zoo“, liest sie. Das Bürgerbündnis habe eingeladen. „Frauen mit und ohne Kopftücher lachen fröhlich über die kuriosen Geschichten, die Zookuratorin Kathrin Witzenberger über die gefiederten und dickfelligen Zoobewohner zu erzählen weiß“, schreibt die Lausitzer Rundschau.

„Polizist bei Einsatz im Asylbewerberheim Hoyerswerda verletzt“ steht über dem nächsten Bericht. „Als die Polizei eintraf, wurden die Beamten mit Flaschen und Feuerlöschern beworfen.“ Gegen drei der Bewohner des Heims, einer 24, einer 28 und einer 34 Jahre, werde nun wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung und Widerstand gegen Vollzugsbeamte ermittelt.

Diesen Artikel schneidet sie sich aus.

Es ist Juni, Ramadan, die Fastenzeit, beginnt, und sie sind immer noch hier. Wenn sie das Heim betritt, blickt Samira Hammad jetzt hoch zu den Pressholzplatten, die sie vor die zerbrochenen Fensterscheiben im dritten Stock genagelt haben.

Ein Junge hatte in dieser Nacht am Handgelenk geblutet, damit hatte es angefangen. Als anstelle eines Krankenwagens zuerst Polizisten kamen, fühlten sich seine Mitbewohner verdächtigt. Sie rasteten aus.

„Die Bewohner des Asylbewerberheims fühlen sich nicht mehr sicher und möchten in eine andere Stadt umziehen“, hat der syrische Vater nach dem Anschlag des Sturmhaubenmannes in sauberer Handschrift auf ein Blatt Papier geschrieben. Sie haben es alle unterschrieben. Mit Namen, Vornamen, Land und Personalausweisnummer.

Ein halbes Jahr ist um. Pfarrer Jörg Michel sitzt im frisch eingeweihten Bürgerbündnisbüro. Die Stadt hat ihnen einen Raum gegeben – im Haus der Touristeninformation. Michel hat eine Sprachregelung gefunden für den Aufstand der Heimbewohner. Er nennt ihn „ein reinigendes Gewitter“.

Ende Juli haben sie im Heim ein Sommerfest veranstaltet. Sportvereine kamen. Jetzt soll es weitergehen, positiv, auch wenn sie ihren Dolmetscher verloren haben: Der Syrer und seine Familie haben die Stadt verlassen.

Auch Samira Hammad hat eine Entscheidung getroffen: Ihre Schwester in Berlin hat ihnen eine Anwältin besorgt. Die soll für sie einen Weg finden, wie sie aus Hoyerswerda verschwinden können. Bis es so weit ist, dürfen die Kinder nur noch im Zimmer Fahrrad fahren.

Kristiana Ludwig, 26, ist Redakteurin der taz

Björn Kietzmann, 33, ist freier Fotograf in Berlin

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen