: Das Selbstverständlichste der Welt
KONZEPTALBUM Ulrike Almut Sandig erweist sich als die große Romantikerin unter den jüngeren Lyrikerinnen: der Gedichtband „Dickicht“
Als 2007 Ulrike Almut Sandigs zweiter Lyrikband mit dem etwas eigenartigen Titel „Streumen“ erschien, hieß es dort gleich zu Beginn programmatisch: „Wir streumen vor lauter Sehnsucht.“ Streunen, strömen, träumen – Sandigs poetologisches Grundprinzip enthält jede Menge Aktivitäten, die zusammenschießen in diesem Begriff und dichterische Produkte zur Folge haben, die genau das sind: dahinfließende, sehnsüchtige Suchbewegungen im Zwischenreich von Wirklichkeit und Imagination.
Man tritt der 1979 geborenen Autorin wohl nicht zu nahe, wenn man sie als die große Romantikerin unter den jungen Lyrikerinnen bezeichnet. Das hat nur am Rande etwas mit Liebessehnen und Begehren zu tun, viel mehr hingegen mit einem Suchen, das gar nicht so recht weiß, wonach es sucht, und mit einem oft fast kindlichen Wünschen, bei dem schon der Wunsch Erfüllung genug ist: „mein rechter, rechter Platz // ist leer, ich wünsch mir alle Freunde her / ich wünsch mir, dass ich keinen verlier // ich wünsch mir, dass keiner nach Haus / muss, wenn das Fest noch nicht aus ist. // ich wünsch mir kein Dickicht mehr / in uns hinein, nur noch um uns herum. // ich wünsch mir den Wind in die Äste / die Spiele im Schatten, die rauschenden Feste // bis sich die stoffblaue Nacht um uns legt / und uns wie Kinder nach Hause heimträgt.“ Dieses Gedicht, das dem neuen Lyrikband den Titel gibt, besteht aus nichts als Wünschen, mit denen eine Leerstellen besetzt werden soll, doch beim Lesen wird recht schnell klar, dass all diese Wünsche gar nicht wahr werden müssen, um dem lyrischen Ich die ersehnte Geborgenheit zu verschaffen. Das Zuhause, „das hast du dir selber gedichtet“ – zu Hause ist das Ich dieser auf eigenartig nüchterne Weise verträumten Gedichte nur dort, wo es dichtet.
„hab sagen gehört, es gäb einen Ort / für alle verschwundenen Dinge“ – für vergessene Apfelsorten ebenso wie für Karl-Marx-Stadt und dem Tagebau zum Opfer gefallene „Braunkohledörfer“ –, doch dieser Ort ist natürlich „auf keiner gültigen Karte verzeichnet“. Sandigs Weg durchs Dickicht des Bewusstseins ist zumindest äußerlich akkurat angelegt: Auf ein einleitendes Orientierungsgedicht – „in dir / die Nadel, die zittert und immer hinzeigt / auf Norden, obwohl du nicht weißt, was da liegt“ – folgen 27 Poeme, die diesen inneren Norden erkunden; die „Mitte der Welt“, die nur aus einem Gedicht besteht, bildet gleichsam die Achse des Buches; anschließend sind ebenfalls 27 Gedichte dem Süden gewidmet, ehe der Band abschließend im Unendlichen verklingt. In der Musik würde man von einem Konzeptalbum sprechen.
Das Bemerkenswerte an Sandigs Lyrik ist dabei: Sie bedarf keiner kühnen Metaphorik, kaum einmal ausgefallener Wortbildungen, keiner Reime und strengen Formen. Ihr Zauber beruht vielmehr auf einem sprechenden Ich, das sozusagen mit beiden Beinen in der Realität steht und gleichzeitig mit dem Kopf in die Sphären des Träumerischen, Imaginären, Fantastischen vorstößt. Im lyrischen Augenblick schießt das scheinbar Disparate zusammen und wirkt wie das Selbstverständlichste der Welt. Ulrike Almut Sandigs Gedichte führen uns in geheimnisvolle Räume der Poesie und strahlen doch eine Geborgenheit aus, als seien wir, ihre Leser, hier schon immer daheim gewesen.
ANDREAS WIRTHENSOHN
■ Ulrike Almut Sandig: „Dickicht“. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2011, 80 Seiten, 16,95 Euro
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