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Die Schlüssel zum Glück

taz-Serie „Besuch in der Marheinekehalle“ (Teil 2) : Joachim Pielka verarztet Lieblingsschuhe, auch wenn davon nicht mehr viel übrig ist. Den Stand teilt er sich mit Hans Mix, dem Türöffner in der Not

von Hans W. Korfmann

Manchmal muss Joachim Pielka den Kopf schütteln und sagen: „Tut mir leid, da ist nichts mehr zu machen!“ Der Patient blickt ihm entsetzt in die Augen. Pielka hat immer helfen können. Aber jetzt schüttelt Pielka traurig den Kopf und sagt: „Wenn nix mehr is, dann geht auch nix mehr!“ „Aber, Sie haben es doch immer noch hingekriegt, Herr Pielka …, so viele Jahre jetzt schon!“ Und dann bekommt Herr Pielka doch ein wenig Mitleid mit den alten Dingern und eine Stimme wie ein Hausarzt. Und eigentlich fühlt er sich auch so, obwohl es doch nur um ein paar ausgelatschte Schuhe geht.

„Die Lieblingsschuhe, das ist das größte Thema!“, sagt Pielka. „Die Leute können sich einfach nicht trennen!“ In der Regel kann Pielka auch alles noch einmal so zusammenflicken, dass der Mensch sich wieder fühlt wie neugeboren. Er neigt eben dazu, mit seinen Schuhen regelrecht zusammenzuwachsen, der Mensch, und ein neuer Schuh kommt ihm vor wie ein neuer Fuß. Deshalb wechselt Pielka so gut wie alles an einem Schuh, Laufsohle, Absatzsohle, Brandsohle, Decksohle, Innenfutter, Hackenfutter, Absatzaufbau und Schnürsenkel. Alles außer dem geliebten Oberleder.

„Vor allem Männer sind äußerst pingelig“ mit ihren Schuhen. Manchmal sind Schuhe dabei, die haben 300 Euro gekostet. Da kommen dann auch echte Altgerber Ledersohlen drauf, mit Goldstempel, für 20 Euro. Oder eine Elchenloher Grubengerbung, die ein Jahr lang in einer bestialisch stinkenden Grube reift, bis sie dann bei Pielka in der Markthalle landet. „Die Kaufkraft ist da, nach wie vor!“, sagt Pielka. „Es kommen zwar weniger als früher, aber die wenigen haben mehr Geld.“ So spürt auch ein Schuster, dass die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird.

Bei den Frauen ist das beste Geschäft noch immer der brechende Absatz. Zwar sind die schmalen Sockel schon um einiges stabiler geworden, doch gegen Gitterroste und verhängnisvolle Spalten zwischen Gehwegplatten ist noch kein Leim gewachsen. Auch Hunde knabbern offensichtlich gern an Weibchens Absatz. Aber auch Männerabsätze sollen hoch sein. „Zum Beispiel dieser Musiker von Rammstein, der am Abend ’nen Auftritt hatte“, aber irgendwie zehn Zentimeter kleiner war als seine Kollegen. Also hat er den Schuh eben ein bisschen aufgebaut.

Pielka sieht die Dinge pragmatisch. Er ist zu lange im Geschäft, um romantisch zu sein – egal wie hoch die Absätze sind. „Bald 40 Jahre ist das her, in ’ner Kneipe in Moabit“, da fragte ihn der Hans Mix, der bei Petri am Wurststand arbeitete, ob er nicht mit ihm einen Schuh- und Schlüsseldienst aufmachen wolle. Da würde gerade ein Stand frei in der Halle, und samstags stünden die Leute dort Schlange.

Es gab allerdings ein Problem: Pielka war Schlosser, aber Mix war kein Schuster. Also holten sich die Jungunternehmer noch den Meister Ruge mit ins Boot. Ruge war einer von der alten Schule, streng und ordentlich. Da haben die beiden Herren dann auch einiges gelernt über die Schuhflickerei. Über dreißig Jahre haben sie sich jetzt die paar Quadratmeter des Hallenstandes geteilt und Schuhe geklebt und Schlüssel gefeilt.

„Es gibt Schuhe, die kommen regelmäßig, alle ein, zwei Jahre …“ Es gibt aber auch regelrechte und regelmäßige „Schlüsselverlierer und -verleger“. Wenn so ein Schlüsselverlierer den Gang entlangkommt, dann sieht Pielka „schon von weitem“, dass der gleich zu ihm sagt: „Meine Tür ist schon wieder zugefallen!“ Als ob die von alleine zufallen würden, die Türen. Und wenn das so ein alter Stammkunde mit einem alten Schloss ist, dann hat Pielka den unverkäuflichen Dietrich schon in der Hand. Denn der Dietrich ist laut Papier ein Einbruchswerkzeug. Aber verleihen darf er ihn, zumindest an seine bekannten Stammkunden und chronischen Schlüsselverleger.

Wenn es sich aber um ein Sicherheitsschloss handelt, dann muss der Schlosser Pielka den Herrn Schölzel rufen, den ehemaligen Briefträger, der ein Spezialist im Türenöffnen ist. Der macht sich dann mit seinem Spezialwerkzeug im Auftrag des Schlossers Pielka auf den Weg und kümmert sich um die traurigen Menschen, die sich vor den verschlossenen Türen fühlen, als hätten sie ihr Zuhause verloren.

Mit den Schlössern und den Schlüsseln, das ist nämlich eine ernste Angelegenheit. Viel ernster noch als die Lieblingsschuhe. Die Schlüssel öffnen die Tür ins Heim, wo noch viele andere Lieblingssachen stehen. Deshalb deponieren vorsichtige Menschen stets einen Zweitschlüssel bei einem Menschen ihres Vertrauens, vorzugsweise bei der Nachbarin. Für den Fall, dass die Wohnungstür wieder mal zufällt, aber der Schlüssel noch drinnen liegt. Für den viel selteneren Fall aber, dass sie ihn nicht drinnen haben liegen lassen, sondern tatsächlich draußen verloren haben, müssen sie schnellstens zu Herrn Pielka selbst, um einen Zweitschlüssel anfertigen zu lassen. Dann sieht sich Herr Pielka den Schlüssel kurz an, geht zu den Rohlingen und guckt sich einen aus und sagt dann: „Iss gut, kommen Sie in ’ner Viertelstunde wieder!“ – Darauf die Kundin: „Nee, den Schlüssel geb ich nicht aus der Hand!“ Dann muss Pielka den Schlüssel, argwöhnisch von den Blicken der Hausdame verfolgt, vor ihren Augen schleifen und darf das wertvolle Original nicht eine Sekunde aus der Hand legen. Es könnte schließlich verloren gehen. Und in falsche Hände geraten.

Niemand außer den Schlossern weiß so gut, wie wichtig den Menschen ein Schlüssel ist. Kein verlorener Ausweis, kein verlorenes Portemonnaie versetzt den Menschen so in Unruhe wie der verwehrte Zugang zur eigenen Wohnung. Dabei sind die Schlüssel im Vergleich zu den Schuhen „eine leichte Arbeit“. Abgesehen von den alten Kellerschlüsseln, die noch immer mit der Hand gefeilt werden müssen. Und wenn es so ein Doppelbartschlüssel ist, dann fallen schon einige Späne. Oder bei den Durchsteckschlüsseln – „so ’ne Berliner Spezialität, gibt’s immer noch!“

Bei den Sicherheitsschlössern dagegen hat er leichtes Spiel, da greift er sich den nummerierten Rohling heraus und hält ihn kurz unter die Maschine. An die 3.000 Rohlinge werden es schon sein, die Pielka hier in der Markthalle „zu hängen hat“, die Sicherheitsschlüssel, Autoschlüssel, Motorradschlüssel, Steckschlüssel, Fensterschlüssel, Schrankschlüssel, Vierkantschlüssel und was es sonst noch gibt auf der Welt an Schlüsseln.

„Ich geh hier wieder rein nach der Sanierung“, sagt Pielka. Es ist zwar nicht mehr so wie in den Siebzigern, „da standen die Samstagmorgens vor den Eingängen zur Halle in der Schlange“, und da konnte man auch noch richtig was verdienen. Aber Schlüssel verliert man immer mal wieder, und Schuhsohlen laufen sich durch. Es sieht so aus, als wäre die Idee vom Hans Mix keine schlechte gewesen. Auch wenn er selbst erst mal nicht mit ins Containerdorf ziehen wird, das für die Händler während der Renovierung der Halle errichtet wird. Nächstes Jahr wird er wohl wieder dabei sein. Auch wenn dann alles ein bisschen anders sein wird als die letzten 30 Jahre.

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