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Der dreifach diplomierte Idiot

AUSSTELLUNG In der Galerie im Park sind die Werke des Münsteraner Psychiatriepatienten Erich Spießbach zu sehen. Die noch völlig unbekannten Bilder sind eine Entdeckung

Die Tür haben seine Ärzte tatsächlich nie ganz zugekriegt. Spießbach sägte die Gitter seines Fensters durch, regelmäßig unternahm er Spaziergänge durchs nächtliche Marsberg

VON BENJAMIN MOLDENHAUER

Das Klischee will es so, dass die Irren mehr und anderes sehen als die nominell Normalen. Die Ausstellung „Der dreifach diplomierte Idiot – Das Phänomen Erich Spießbach“ legt zumindest nahe, dass an der Idee manchmal was dran sein könnte. Mehr jedenfalls, als nur die Verkitschung der Krankheit durch die Gesunden. Sie ist noch bis zum Sonntag nächster Woche in der Galerie im Park zu sehen.

Erich Spießbach, geboren 1901, archäologischer Restaurator, Museumsangestellter und meisterhafter Gebrauchsgrafiker, verbrachte fast ein Viertel seines Lebens in psychiatrischen Kliniken in Münster und Marsberg. Er hinterließ ein zurzeit noch weitgehend unbekanntes Werk, das Anfang der Fünfzigerjahre in einem kurzen, intensiven Ausbruch an Kreativität entstanden ist.

Auf Anregung des jungen Marsberger Assistenzarztes Manfred in der Beeck verfertigte der Autodidakt Spießbach innerhalb von zwei Jahren mehr als 300 Zeichnungen, dazu kamen Skulpturen und Essays, unter anderem über Sprachtheorie, das Wesen des Guten und, tatsächlich, über „Kunst und Wahnsinn“. Außerdem findet sich ein eigenes Notationssystem im Nachlass.

Ein umfangreicher Teil des Werkes besteht aus zahllosen Briefen an Menschen, in denen Spießbach potenzielle Verbündete wähnte. Er schrieb, um die Ärzte des Irrtums zu überführen und seine Entlassung zu erwirken.

Diese Unerbittlichkeit und Unnachgiebigkeit gegenüber sich selbst und anderen werden ihren Teil zur 1942 erlassenen Entmündigung beigetragen haben. Ihr ging eine eindrucksvolle Folge von Rechtsstreitigkeiten voraus, die Spießbach unter anderem gegen seinen früheren Arbeitgeber, den Leiter des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Münster, anstrengte.

Der detaillierte Fortgang, den die Reihe von Gerichtsverhandlungen nahm, lässt sich in dem hervorragenden Katalog zur Ausstellung nachlesen. Sie fand nach sechs Jahren ein jähes Ende, als Spießbach in vollem Ernst beantragte, den Vorsitzenden des Münsteraner Arbeitsgerichts wegen – der Mann hatte Chuzpe – „offensichtlicher Geisteskrankheit“ zu entlassen. Die Entmündigung wurde dann recht zügig auf den Weg gebracht.

Diese offensichtliche Unfähigkeit taktisch abzuwägen, lässt die Diagnose „querulierender Paranoiker“ nicht vollkommen abwegig erscheinen. Und natürlich stellt diese Sammlung jedem Besucher implizit die Frage, ob Spießbach nun, wie man so sagt, verrückt gewesen ist oder nicht. Es ist diese Diskrepanz zwischen dem Attribut des Wahnsinnigen und der Klarsichtigkeit dieser Bilder, die die Ausstellung zu einer der interessantesten und berührendsten der letzten Zeit werden lässt.

Das zeichnerische Werk vermittelt den Eindruck einer Dringlichkeit, die biographisch fundiert ist: Die Kunst hat hier eine buchstäblich existentielle Bedeutung, die in der Anstalt angefertigten Bilder und Texte sollten als Beweis von Zurechnungsfähigkeit verstanden werden und die Entlassung aus der Klinik vorbereiten. Die chronologisch ersten Zeichnungen zeigen eine nackte Frau, in der einen Hand eine Fackel, an der anderen eine gesprengte Kette.

Diese einfache Allegorie einer zuerst eingesperrten, nun aber befreiten Unschuld ist allerdings insofern nicht repräsentativ, als viele der Exponate sich durch einen bösen Witz auszeichnen, der Selbstironie einschließt – der Ausstellungstitel etwa geht auf eine Selbstzuschreibung Spießbachs zurück.

Ein großer Teil der Bilder besteht aus satirischen Zeichnungen, darunter einige sorgsam verfertigte Spottbilder, auf denen die Anstaltsärzte als Hohlköpfe, die sich von ihren Patienten bedroht sehen, porträtiert werden. Auch in diesem Punkt konnte Spießbach offenbar nicht taktieren, sondern sah sich dem verpflichtet, was er als seine Wahrheit definiert hatte. Das „teutsche Volk“ klassifizierte er als „Idiotenklub“ und hängte Leinentücher mit sozialistischen Symbolen in den Anstaltsfluren auf.

Auch die Blindheit der Nachkriegsbevölkerung gegenüber den deutschen Verbrechen hat Spießbach wahrgenommen, von den Euthanasiemorden hat er aller Wahrscheinlichkeit nach gewusst.

Allerdings geht die Geschichte von Erich Spießbach nicht einfach in der Meta-Erzählung vom fälschlicherweise für verrückt gehaltenen Genie auf. Eine mit wenigen Strichen hingeworfene Zeichnung zeigt eine Hand in einem Türrahmen, das Bild ist mit den Zeilen „Solange ich meinen Daumen dazwischenhalte, kriegt Ihr die Tür nie zu!“ versehen. Sein Titel lautet „Der Fanatiker“, und es zeugt nicht nur vom Freiheitsdrang, sondern auch vom schrecklichen Verdacht, dass vielleicht wirklich etwas nicht ganz in Ordnung mit einem sein könnte.

Drei vom Arzt in der Beeck mit dem Titel „Blick in die Zukunft: ‚Wahnsinn‘/Zeichnung des paranoiden E. S.“ versehene Zeichnungen zeigen ein geschlechtslos wirkendes Wesen mit weit aufgerissenen Augen. Das Sujet des starren Blicks als Signum des Wahnsinns ist in der Ikonografie fest etabliert. Spießbach ist es gelungen, es in tatsächlich beklemmender Weise zu variieren, die Bilder gehören zu den beeindruckendsten der Ausstellung.

Die zwei Blätter, nach denen der Patient seinen Schaffensrausch für beendet erklärt, zeigen jeweils ein in seiner Expressivität äußerst bedrückendes Augenpaar. Auf dem einen mit dem Titel „Die Tobezelle“ schaut jemand mit leerem Blick von innen durch das Guckloch einer Zellentür, vor ihr steht ein feister Anstaltsgehilfe, dessen halboffener Mund im besten Fall Ahnungslosigkeit verheißt.

Auf dem anderen sind die Augen aus dem Schädel herausgelöst und Teil einer Maske. Man könne vermuten, schreibt der Kunsthistoriker Thomas Röske im Katalog, dass hier ein ständig unter Beobachtung Stehender versucht, „nur Blick zu sein, ohne selbst gesehen zu werden“.

Die Ausstellung lohnt sich auch für Ärzte und Klinikangestellte, denen etwas an einem empathischen Blick auf ihre Patienten liegt. Den nämlich kann man anhand dieser Bilder, die auch von der Angst vor dem psychischen Zerfall zeugen, lernen.

Die Tür haben seine Ärzte tatsächlich nie ganz zugekriegt. Spießbach sägte die Gitter seines Fensters durch, regelmäßig unternahm er Spaziergänge durchs nächtliche Marsberg. 1956 stürzte er beim letzten Fluchtversuch ab. Die aus einer Fußmatte hergestellte Schnur, an der er sich aus dem Fenster der Klinik Münster abseilt, scheuert an der Dachrinne durch, und was 13 Jahren Irrenanstalt nicht gelang, schafft der Asphalt: Erich Spießbach geht kaputt, er stirbt an den Folgen eines Schädelbruchs.

Bis zum 24. 8., Galerie im Park,

Klinikum Bremen-Ost,

Züricher Str. 40

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