: Lob der Vereinzelung
SUBVERSION Die postdramatische Figur könnte noch einmal brauchbar werden – abseits der Bühne
VON ANDI SCHOON
Welch ein Schauspiel! Am 14. Juli 1789 ruft Camille Desmoulins die Anwesenden zu den Waffen. Vor ihm das erwachende Bürgertum, das noch am gleichen Tag die Bastille stürmen wird. Hinter ihm die erste Shopping Mall der Weltgeschichte, ein Ort des freien Handels, das Palais Royal. Wie konnte es geschehen, dass gerade diese Brutstätte des frühen Kapitalismus zum Ausgangspunkt der Französischen Revolution wurde? Der Philosoph Walter Benjamin hat uns die Gründe in seinem Fragment gebliebenen „Passagen-Werk“ (1927–40) erklärt.
Das Palais Royal, vis-à-vis vom Louvre gelegen, gehörte in den 1780er Jahren der Königsfamilie, verwaltet wurde es jedoch von „Philippe Egalité“, einem freiheitlich gesinnten Cousin des Königs. Er ließ weitläufige Arkadengänge anlegen, unter denen sich alsbald Gastronomie und Einzelhandel breitmachten. Im weit verzweigten Palais eröffneten Clubs und Bordelle, Molière zog ein, eine bunte Gesellschaft traf sich im Innenhof. Hier, auf königlichem Privatgrund, hatte kein Gesetzeshüter etwas zu melden. Im Schutz des Monarchen blühten der freie Handel – und die freie Meinungsbildung. Der dritte Stand konnte sich unbeobachtet auf den Umsturz des Systems vorbereiten, das ihn im Palais Royal beherbergte. Diese Aneignung geschah im Dienste des mündigen Bürgers und des Kapitals.
Das Theater der Revolution
Die Revolution kam und mit ihr das bürgerliche Subjekt, welches seine neue Souveränität alsbald dazu nutzte, sich bewusstlos durch Einkaufsparadiese treiben zu lassen. Walter Benjamin erschien das kapitalisierte Paris des 19. Jahrhunderts wie eine Phantasmagorie, eine Scheinwelt, in der sich die Akteure wie Figuren eines Theaterstücks bewegen. Bühnenfiktion und Wirklichkeit näherten sich einander an. Doch gerade in dieser Kulisse der Täuschung identifizierte Benjamin Flaneure, kritische Müßiggänger, die alle Zeit der Welt hatten, um das Geschehen haargenau zu beobachten – in kritischer Distanz zu sich selbst und den Dingen.
Heute sehen wir solche Figuren auf manch deutschsprachiger Theaterbühne, scheinbar über der Sachlage schwebend, dem dramatischen Konflikt enthoben. Der Theaterwissenschaftler Bernd Stegemann beklagte erst neulich in der Zeit, dass der Abstand zur Rolle jede Form von Repräsentation und Mimesis verdränge. Das performende Subjekt teilt sich die Textfläche in pragmatische Portionen auf und meidet authentische Identifikation. So bleibt die postdramatische Figur auch im Licht der Scheinwerfer unerkannt.
Wie Stegemann richtig feststellt, hat diese Art der Darstellung ein Pendant in der Realität, denn das heutige Arbeitsleben widerspricht jeder stabilen Selbstkonzeption. Die symbolische Spielart des Kapitalismus erfordert Flexibilität und die Fähigkeit, sich selbst permanent neu zu erfinden. Jede Bewerbung bedeutet den Entwurf einer dem Anlass entsprechenden Figur. Man verkauft sich immer wieder anders, hebt bestimmte Facetten hervor, denkt sich etwas aus. Das ist zunächst einmal eine erzwungene Handlung. Doch gerade in der Unechtheit des Vorgangs verbirgt sich subversives Potenzial – umso mehr, je unüberschaubarer die Verhältnisse sind.
Die künstliche Verwandlung erscheint als probate Taktik aufgrund der Defizite anderer Protestformen. Subversion ist ein Ding der Unmöglichkeit geworden, denn böse Mächte haben sie in einen produktiven Standortfaktor verzaubert. Seither läuft das klare Bekenntnis stets Gefahr, umgehend mit einem Preisschild versehen zu werden. Je radikaler das Zeichen, desto kraftvoller dessen Verwertung. Ein weiteres Problem der Protestkultur ist das Versagen der „Multitude“: Als nicht-repräsentierbarer Schwarm sollte sie die Durchschlagskraft der alten Arbeiterklasse in eine neue Zeit hinüberretten, mit flüchtigen Aktionen und unberechenbarer Taktik. Allein: Ihre Mitglieder stehen in Konkurrenz zueinander. Solidarität aber lässt sich nicht herstellen, wenn alle nach den gleichen Stellen, Stipendien und Fördertöpfen greifen. Die Multitude eint zwar das gemeinsame Unbehagen – doch kein gemeinsames Ziel. Einer kollektiven Bewegung wie Occupy fiel auf diese Situation kaum keine Antwort ein, sie blieb in der gemeinsamen Aktion thesenschwach. Was aber, wenn sich die Multitude in ihre Teile zerlegen ließe? Vielleicht ist der Traum von einer vielgestaltigen Formation ja gar nicht in einer Gruppe, sondern nur als Einzelperson zu verwirklichen. Als eine in den Körper gewanderte Multitude, oder auch: als postdramatische Bühnenfigur in der Realwelt.
Es liegt in der Natur dieser Figur, dass sie sich nur abstrakt beschreiben lässt: Sie müsste sich die Unberechenbarkeit der Styles und Oberflächen zunutze machen. Sie sollte die Codes verschiedener Diskurse beherrschen. Die Weigerung dieser Figur dürfte sich nicht erkennbar nach außen tragen, weil sie dort umgehend als Marke verkauft würde. Ihr Ideal wäre das der Opazität und ihre Selbsterfindung ein souveräner Akt. Worin aber besteht die politische Handlung eines Subjekts, das hauptamtlich seiner Verwertung entgeht? Und woran sollen wir diesen Menschen erkennen? Wo trifft man sich?
Besser wäre es jedenfalls, die Orte und Verhaltensmuster des zeitgenössischen Revolutionstheaters zu meiden, das heute nicht mehr auf Sprechbühnen, sondern im Rahmen von Biennalen und Kulturevents dargeboten wird. Wie Halbgötter schweben die global vernetzten Kuratoren und ihre Stars aus Theorie und Praxis in Mumbai, Nairobi oder Marrakesch ein, um sich über das Elend der Benachteiligten auszutauschen. Ein hochgradig privilegierter Affenkäfig, aus dem kritische Thesen, Installationen, Objekte und Performances hervorgehen, die doch hauptsächlich der Imagepflege der ausrichtenden Nation dienen. Abgesehen von der zweifelhaften Rolle, in die man sich hier begibt, mehren sich die Anzeichen, dass das nicht mehr lange gut geht. „Kill all artists“ habe ich im vergangenen Sommer an den Mauern von Venedig gelesen. Und als die Guggenheim-Foundation vor zwei Jahren in Kreuzberg einen Urbanismus-Workshop plante, wurde sie von der alteingesessenen Kiez-Belegschaft unter Androhung roher Gewalt vertrieben. Denn die Benachteiligten aller Länder haben inzwischen begriffen: Wenn der künstlerisch-akademische Jet-Set einfliegt, kostet der Kaffee danach das Doppelte.
Zur Gruppe der ins Kreuzfeuer geratenen chosen few gehört auch Nicolas Bourriaud, seines Zeichens erfolgreicher Kurator und derzeit Direktor der Pariser Kunsthochschule, einer grande école. 2009 veröffentlichte er das Buch „Radikant“. Sein Konzept klingt erst einmal gut: „Der Radikant beinhaltet ein Subjekt, doch dieses erschöpft sich nicht in einer stabilen und in sich selbst gefestigten Identität. Es existiert nur in der dynamischen Form seines Umherschweifens.“ Die Figur des Radikanten geht nicht zurück auf einen authentischen Ursprung, sondern ist in der Lage, immer wieder neue Wurzeln auszubilden, je nachdem, in welche Situation sie gerät. Doch Bourriaud geht es um die „Bildung eines mobilen Volks von Künstlern und Denkern, die beschlossen haben, in dieselbe Richtung zu gehen. Ein Aufbruch, ein Exodus.“ Und weiter: „Flughäfen, Autos oder Bahnhöfe werden zu neuen Metaphern des Hauses.“ Mein Verdacht: Dieser Exodus findet in der Business Class statt. Letztlich ist die Rede von der Mobilität der Privilegierten.
Ein imaginäres Subjekt
Wo Nicolas Bourriaud mit seinem Traum vom nomadischen Dasein letztlich die Kulturelite und ihr Stipendiensystem anspricht, schwebt mir ein imaginäres Subjekt vor, das auf die Quersubvention unterschiedlicher Geldquellen setzt. Auch das künstlerisch-akademische Feld betritt es immer nur als Gast. Heimisch ist es ausschließlich im urbanen Zeichenwald, nicht in den Lounges von Museen, Akademien und Abflughallen. Von den Situationisten entlehnt es sich die Kulturtechniken dérive und détournement: Es schweift umher und spielt mit der fortwährenden Veränderung kultureller Codes.
Ihm ist der distanzierte Blick der Pariser Passanten und Flaneure zu eigen, den Walter Benjamin beschrieben hat. Und es hütet sich vor der Gruppe. Das imaginäre Subjekt zieht Kraft aus der Vereinzelung – und bewegt sich in der Höhle des Löwen so, wie es die Bürger im Palais Royal taten, als sie unter dem Schutz des Systems dessen Umsturz vorbereiteten.
Der Text ist an den Essay „sujet imaginaire“ angelehnt, der bei Matthes & Seitz Berlin erschienen ist
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