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Ein Oscar für Ophelia

Für seine Hamlet-Aufführung am Zürcher Schauspielhaus hat Regisseur Jan Bosse die Täuschung zum Programm erhoben und das Publikum gleich mit in das kunstvoll ironische Spiel eingebunden

Bosses Inszenierung ist als Mitmachtheater weder peinlich noch schmerzhaft

VON ARIANE VON GAFFENRIED

Wer zum Teufel ist Hamlet? Ein sehnsüchtiger Zauderer? Ein irrer Grübler? Ein neurotischer Melancholiker? Oder gar ein philosophierender Terrorist? Das Regietheater hat ihn tausendmal gedeutet, ohne ihm aber jemals ganz auf die Schliche zu kommen. Gleichwohl wagt es sich fortwährend – mal glücklich und mal kläglich – an des Rätsels Lösung um Shakespeares längste und berühmteste Tragödie. Auch Regisseur Jan Bosse riskiert eine Umsetzung im Zürcher Schiffbau. Das ist kaum erstaunlich, scheut Bosse sich bekanntlich nicht vor großen Stoffen und hat damit Erfolg, wie die Einladung seiner Inszenierungen „Die Leiden des jungen Werthers“ vom Gorki-Theater Berlin und „Viel Lärm um nichts“ aus Wien zum diesjährigen Berliner Theatertreffen zeigen.

In Bosses Interpretation des beladenen Klassikers ist Hamlet ein Schauspieler, der gesamte Theaterraum Schloss Helsingör. Das Publikum nimmt Platz in Stéphane Laimés ausgeleuchtetem Thronsaal, an mit weißen Tüchern bedeckten Tischen. Die Tafel für die Gäste ist mit Kelch, Teller und Besteck gedeckt. Ein langes Rednerpult mit Mikrofon vervollständigt die im Rechteck angelegte Tischformation, in der Mitte ein cremefarbener Teppich als Spielfläche. An den Tischen sitzen die Schauspieler neben den Zuschauern. Klar ist von Anfang an: Das Publikum spielt mit als Teil des verrotteten Hofstaats, Gäste und Verbündete zugleich. Es kann sich ebenso wie das Geschehen in den überdimensionalen Spiegeln an den Hallenwänden beobachten.

Bosse deklariert die Theaterszene zum Leitmotiv und hält bis zum Schluss konsequent daran fest. Täuschung ist Programm. Joachim Meyerhoffs Hamlet ist weder Fisch noch Vogel, weder Würstchen noch Hund und kann doch alles spielen: den Dozenten, den Verwöhnten, den Lustigen, den Tragischen, den Gequälten und den Amüsierten. In grauem Designer-Pullover, grauer Buntfaltenhose und mit bravem College-Boy-Scheitel könnte er vom Webdesigner bis zum Schauspieler so ziemlich alles sein, was einigermaßen kreativ und modern scheint. Meyerhoff hat eine scherzhafte Leichtigkeit im Spiel, kommentiert und ironisiert im selben Zug, ist unberechenbar, abwechslungsreich, treibt seine Figur in ernsthafte Verzweiflung, dann wieder in die Karikatur, von der Präsentation in die Repräsentation, von Verfremdung in Naturalismus.

Ebenso vielseitig, doch undurchschaubar bleibt Edgar Selges Claudius, der Usurpator im Anzug: In einer Szene ist er Diktator, in der nächsten Demokrat, einmal rationaler Atheist, einmal inbrünstig Betender. Franziska Walsers Gertrud darf nicht viel mehr als im ockerfarbenen Abendkleid an der Seite des neuen Gatten wandeln, gefolgt von Jean-Pierre Cornus steifem und amüsantem Polonius. Die behauptete Vielschichtigkeit der Figuren wird allerdings nie glaubwürdig ausgeführt – nur Cathérine Seifert mag man die moderne und selbstbewusste Ophelia in Puffärmeln ausnahmslos abnehmen. Für ihren dargestellten Irrsinn gibt sich Ophelia auf dem Rednerpult selbst den Oscar (Mikrofonhalter) und dankt unter Tränen den Zuschauern.

Der von Eva Plessner gut modernisierte Text wird von Bosse mit viel Witz, Ironie und Klamauk ausgestattet. Dafür ist man dankbar, zumal die Inszenierung über drei Stunden dauert. Das Theater parodiert sich durchgehend selbstreflexiv, etwa wenn der komödiengewandte Mike Müller als Horatio, in Schuluniform gezwängt, Hamlets Souffleur mimen darf, wenn Letzterer, in Tischtuchtoga, den wilden Pyrrhus in pathetischem Gestus zum Besten gibt – ein Seitenhieb auf vermoderte Schauspielkunst. Wie Juroren sitzen Rosenkranz und Güldenstern an den Tischen und beurteilen Hamlets Präsentation. Der eine befindet sie als gut, dem anderen ist sie zu lang.

Regisseur des Abends bleibt aber immer Hamlet. So bittet er einen vermeintlichen Zuschauer auf die Bühne, der mit Schweizer Akzent einen Monolog sprechen muss, um daraufhin vom Protagonisten auf dem Regiestuhl schikaniert zu werden: „Lauter bitte! Ist kein einfacher Raum.“ Als das Publikum lacht, droht Hamlet alle umzubesetzen.

Bosses Inszenierung ist einnehmendes Mitmachtheater, das weder peinlich befängt noch schmerzt. Wenn Hamlet in der Totengräberszene sagt, der verstorbene Hofnarr Yorick habe am Hofe „die herrlichsten Einfälle“ gehabt, so scheint es bei Bosse am Schauspielhaus ähnlich. Wenn Gertrud „mehr Inhalt, weniger Kunst“ fordert, so muss man ihr Recht geben.

Gesellschaftliche Fragen werden nur am Rande gestellt. Mike Müller darf als Horatio bis zum Auftritt des Geistes eine Minute Politsatire machen und kündigt in der Manier eines Politikers der Schweizerischen Volkspartei „das Unheil für unseren Staat“ an, wird aber sogleich von einer Tangoeinlage Gertruds und Claudius’ unterbrochen. Die Suche nach den Antworten bleibt bloßes Spiel, die Theatermetapher bleibt im Theaterraum gefangen. Man ist gewillt zu fragen: Wozu das Ganze?

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