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Die Zärtlichkeit der Zwischenräume

ESSAY Die Hauptstadt wird als Ort gedacht, an dem es passiert. Nur in der City schwärmen die Musen, meinte Gottfried Benn. Dabei sind es Dachböden und andere Verstecke, an denen der Schriftsteller arbeiten kann

VON JOCHEN SCHIMMANG

Ich bin in meiner Jugend ein Dachboden-Mensch gewesen. Wir bewohnten ab 1960 einen sogenannten Bungalow, der vielleicht ein bisschen klein geraten war, weil der Architekt sich bei seinen Planungen verpflichtet gefühlt hatte, im Sinne meines Vaters zu sparen. Vor allem in der Diele, wenn zum Beispiel Gäste ihre Mäntel aufhängen wollten, führte das Gedrängel und Gerangel manchmal zum vorübergehenden Stillstand, zur ratlosen Erstarrung. Das Haus reichte dennoch aus für die kleine Familie, spätestens dann, als mein Bruder uns nach seinem Abitur verließ und in dem exotischen Nichtort Leverkusen eine Ausbildung als Industriekaufmann begann. Dieser Bungalow wurde auf drei Seiten von Rasen und einem kleinen Garten eingerahmt, und vor dem Fenster meines Zimmers stand ein Walnussbaum, was ich damals als überaus fremdartig empfand. Ein Walnussbaum in Ostfriesland, das war ein bisschen elitär, fand ich.

Der großzügigste Raum des Hauses aber war der Dachboden, den man über eine Zugleiter betreten konnte. Großzügig deshalb, weil er im Gegensatz zu den meisten Dachböden, die ich später gesehen habe, nicht bis in den letzten Winkel vollgestellt, sondern im Gegenteil praktisch leer war. Zudem fiel bei schönem Wetter durch die Fensterluken das Sonnenlicht geradezu verschwenderisch in den Raum. Auch das trug bei zu dem Eindruck der Großzügigkeit dieses Dachbodens, der in verblüffender Weise größer zu sein schien als die ganze Wohnung, die unter ihm lag.

Auf diesen Dachboden habe ich mich gern zurückgezogen. Ich hatte meine Eltern irgendwann überredet, dort einen Tisch in der Form einer Holzplatte auf zwei Böcken aufzustellen, so dass ich sogar Hausaufgaben für die Schule machen konnte. Vor allem aber schrieb ich dort meine ersten Texte, von denen einer logischerweise „Der Dachboden“ hieß. Dass fast zeitgleich in Belgrad der Roman „Die Dachkammer“ erschien, das Debüt von Danilo Kis, konnte ich natürlich nicht wissen.

Ich habe diese frühen Manuskripte lange aufbewahrt und sogar noch ins Studium mitgenommen, bis sie irgendwann bei einem meiner zahllosen kleineren und größeren Umzüge (etwa vierzig bis heute) verloren gingen oder auch bewusst geopfert wurden. Dass die meisten Fragment blieben (es gab allerdings auch zwei fertig ausgeführte Erzählungen von jeweils knapp 30 Seiten), störte mich damals nicht. Immer, wenn ich nicht weiterkam, sagte ich mir, dass der Text vielleicht einfach nur ein halbes oder ganzes Jahr oder noch länger liegen musste, bis die Zeit reif sei. Wie ich heute weiß, war das für einen 14- oder 15-jährigen Autor bereits eine erstaunlich professionelle Einstellung. Zwar ist der Text „Der Dachboden“ niemals fertig geworden, aber knapp vierzig Jahre später hat der reale Dachboden eine Metamorphose erfahren und wurde als Der Schuppen ein ganz entscheidender, wenn nicht der entscheidende Ort in dem Roman „Das Beste, was wir hatten.“

Dort oben saß ich also halbe oder ganze Nachmittage lang, war anwesend und hielt mich doch verborgen, hatte mich von den anderen entfernt und war doch aufgehoben und irgendwie zu Hause. Der Dachboden ermöglichte mir eine Art von Sesshaftigkeit, die ich vorher, in meiner Kindheit, so nicht gekannt hatte. Als Kind war ich nämlich vorwiegend auf der Flucht gewesen, und diese Fluchtbewegungen waren kaum von Angst, dafür aber umso mehr von Lustgefühlen begleitet.

Die Vorliebe für den Rand bestimmt auch mein Verhältnis zu Plätzen. Eine vollkommene Stadt ohne Plätze kann es nicht geben, zugestanden. Doch zum einen halte ich mich lieber an deren Peripherie auf, als diese Plätze unter den Augen anderer Peripheriker gut sichtbar zu überqueren; zum anderen scheinen mir alle überdimensionierten Plätze von Grund auf missraten, gewissermaßen zu nichts anderem gut als zum Reichsparteitag. Weder der Markusplatz in Venedig noch die Piazza del Campo in Siena haben mich entzücken können. In meinem Pariser Jahr habe ich die Place de la Concorde immer gemieden, jedoch die Place Saint-Sulpice geliebt. Und eine nichtssagendere Hohlform als den Berliner Gendarmenmarkt kann ich mir kaum vorstellen. Wie schön ist dagegen der Ludwigskirchplatz in Wilmersdorf! Was für ein großartiges Versteck!

Mit dem Ausfransen der Städte, der endlosen Ausdehnung der Gewerbegebiete, den Brachflächen, die die alte Industrie nach ihrem Tod hinterlassen hat und die auf neue Nutzung warten, blühen nicht nur die Ränder und Zwischenräume auf, sondern verliert zugleich die Mitte, die City, ihre mythische Bedeutung. Eine Zeit lang ist sie, vor allem für Künstler, so eine Art neuromantisches Ideal gewesen. „Wir sind aus Riesenstädten“, schrieb Gottfried Benn aus dem gar nicht so riesigen, sondern eher überschaubaren Westberlin, „in der City, nur in ihr, schwärmen und klagen die Musen.“ Das hat schon damals nicht gestimmt (abgesehen davon, dass ein Künstler – im 20. Jahrhundert! – nicht auf schwärmende und klagende Musen warten, sondern arbeiten sollte) und stimmt heute noch weniger. Sie schwärmen natürlich auch nicht in der Provinz, und man sollte keineswegs wie Heidegger auf den „Zuspruch des Feldwegs“ warten. Benn und Heidegger waren in den fünfziger Jahren die Derniers Cris des westdeutschen Geisteslebens.

Um im Benn’schen Bild zu bleiben: Die Musen schwärmen und klagen überall dort, wo jemand offen für sie ist. Und wer nicht für sie offen ist, dem helfen auch nicht die angeblichen Weihen des Ortes oder magischer Straßennamen. Der englische Lyriker Philip Larkin hat, um ein besonders krasses Beispiel zu nennen, 30 Jahre lang als Bibliothekar in Hull gelebt, und wer die Stadt einmal gesehen hat, wird wissen, dass dazu ein gewisser Heroismus gehört. Das hat Larkin nicht daran gehindert, ein paar vollkommene Gedichte mehr zu schreiben als Gottfried Benn.

Auf keinen Fall aber schwärmen die Musen vermehrt dort (wie es sich mit dem Klagen verhält, weiß ich nicht), wo sich die Autoren noch dichter drängeln als die Politiker, in der deutschen Hauptstadt nämlich. Der Hang zur Mitte scheint keine Spezialität der politischen Klasse zu sein. 7.000 Schriftsteller, so las ich vor Jahren, tummeln sich in Berlin und reiben sich aneinander. Für die meisten scheint die Berliner Adresse ein so wichtiges Distinktionsmerkmal zu sein, dass sie das Gedrängel gern aushalten. 2005, als ich im Lesezelt auf der Frankfurter Buchmesse zusammen mit zwei nach Berlin zugewanderten Autoren vorgelesen hatte und wir uns gegenseitig die eigenen Bücher schenkten, fragte der eine Neuberliner Autor den anderen nach seiner Adresse, und dann: „Bist du auch so froh, dass du in Berlin lebst?“ Die Antwort war ein begeistertes Nicken, ein bebender Stolz auf die eigene Zugehörigkeit.

Man kennt dieses Phänomen selbstverständlich auch aus anderen Städten, denken wir nur an die Mandarine von Paris. Es ist der magische Glaube an den Genius Loci, der Glaube daran, dass es bestimmte Orte gibt, an denen es passiert. („Ich werd verrückt, wenn’s heut passiert“, wie Nena in einem anderen Zusammenhang so schön sang.) Man kann aber noch so lange in den Deux Magots, im Einstein oder im St. Oberholz sitzen, ein halbes Leben lang, und wird dadurch dennoch nicht erleuchtet, geschweige denn zu einem guten Autor. Die Verengung auf die eigene Stadt, ja auf ein paar Quadratkilometer darin (deren Lage von Zeit zu Zeit wechseln kann), ist die urbane Version der Provinzialität und des Mia san mia. Statt des „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, das die Existenz der anderen immerhin anerkennt, sogar fürchtet, hat das urbane Provinzlertum die Form: „Wer nicht bei uns ist, den gibt es nicht.“ Der Provinzler, auch der aus Riesenstädten, bezieht sein bisschen Wärme und das Phantasma der Heimat aus dieser Ausgrenzung: wir hier drinnen, ihr da draußen.

Dabei ist die große Stadt zunächst einmal das ideale Versteck. Keine andere Umgebung verbirgt den, der sich den Blicken und der Neugier der anderen entziehen möchte, so fürsorglich wie sie. Nichts zärtlicher als die „Anonymität der Großstadt“, ohne Zweifel.

Inzwischen aber scheint diese Zärtlichkeit nicht mehr gewünscht zu werden. Der junge Mensch, der beispielsweise nach Berlin geht, möchte sich nicht verstecken, sondern im Gegenteil „groß rauskommen“, und zwar dort, wo es passiert. Er möchte gesehen werden. Der Wunsch ist nicht neu. Schon bei Lars Gustafsson, im Roman „Herr Gustafsson persönlich“ aus dem Jahr 1971, gibt es eine Stelle, wo es den Erzähler zur Weißglut treibt, dass „niemand ihn sieht“. Denn das heißt: Es gibt ihn nicht. Esse est percipi, wusste schon George Berkeley, Sein ist Wahrgenommenwerden. Umso mehr in einer weitgehend exhibitionistisch verfassten Welt.

Natürlich ist der junge Mensch schon längst vor seinem Gang nach Berlin auf der virtuellen Ebene groß rausgekommen, in den sozialen Netzwerken zum Beispiel. Aber das ist insofern unbefriedigend, weil dort Millionen andere ebenfalls rausgekommen sind, was den eigenen Auftritt stark relativiert. Dass man im Netz zirkuliert, ist auf die Dauer kein ausreichender Existenznachweis, so scheint es. Vor allem ist es kein Distinktionsmerkmal mehr, weil wir schließlich alle dort zirkulieren. So kreisen wir also alle in der digitalen Umlaufbahn, zusammen mit Milliarden anderen. Verstecken können wir uns nicht mehr, ein Verschwinden aus eigener Kraft ist fast unmöglich geworden. Auf Dauer ist das Netz wie das All, man fröstelt ein wenig darin und sehnt sich zuweilen nach dem Phantasma der Heimat.

Jochen Schimmang lebt in Oldenburg. In diesen Tagen erscheint sein Buch „Grenzen, Ränder, Niemandsländer“ (Edition Nautilus), in dem der Autor in 51 Abschnitten über den Platz des Schriftstellers nachdenkt. Unser Text kombiniert, leicht gekürzt, die Abschnitte 24, 42 und 43.

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