: Nachhaltig träumen
Das erfolgreiche Projekt EU feiert 50. Geburtstag. Damit es noch besser wird, muss die Energiepolitik in die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik integriert werden
Daniel Cohn-Bendit, 61, geboren in Frankreich, führte 1968 die Mai-Revolte in Paris an. Gründete 1978 in Frankfurt das alternative Polit- und Kulturmagazin „Pflasterstrand“. Heute ist er Chef der europäischen Grünen-Fraktion im EU-Parlament.
Offensichtlich hat die Jugend von heute andere Anliegen als die Europäische Union (EU). Wer könnte es ihr verdenken in einer Zeit, in der Europa in wohlgefälliger Lethargie verharrt? Für enttäuschte Europäer führt die Tatenlosigkeit der EU gar zu einer weiteren Beschleunigung der Globalisierung und zu einer Verschärfung der bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten.
Der Handlungsbedarf ist unbestreitbar angesichts unkontrollierter Einwanderung und gescheiterter Integration, schwachen Wirtschaftswachstums und Arbeitslosigkeit, Wettbewerbszwang und Betriebsverlegung, Armut und Prekarität, Terrorismus und Krieg, Umweltverschmutzung und Klimawandel. All diese Probleme sind miteinander verflochten, bedingen oder potenzieren sich und bewirken eine nachhaltige Verunsicherung.
Niemand wird die Fehlbarkeit, die Unausgewogenheit, die Unfertigkeit dessen, was wir gemeinhin unter Europa verstehen, in Abrede stellen. Bevor wir aber eine Aufstellung des Für und Wider vornehmen, sollten wir uns vergegenwärtigen, wer die Liste der Unzulänglichkeiten anführt: Es sind die nationalen Regierungen. Kaum ein Staats- oder Regierungschef auf weiter Flur, der sich aktiv für eine weitere Vergemeinschaftlichung der Politik einsetzen würde.
Auf die großen Ankündigungen folgen in den seltensten Fällen konkrete Maßnahmen, denn entsprechend innenpolitischer Erwägungen gleicht der heimgekehrte Staatsmann die europäischen Entschlüsse sofort mit den nationalen Interessen ab. Was zuweilen dazu führen kann, dass Europa plötzlich für jede Form staatlicher Unvollkommenheit haftbar gemacht wird – auch in Bereichen, in denen es nie etwas entschieden hat: im Arbeitsmarkt, in der Immigration, im Sozialwesen, in der Bildung, um ein paar Beispiele zu nennen.
Dabei hat Europa in den letzten 50 Jahren nicht wenig geleistet: die Aufhebung der Grenzen, eine gemeinsame Agrarpolitik, eine Regelung über genmanipulierte Organismen, die Entwicklung des Airbusses, verbindliche Umweltnormen, ganz zu schweigen von den Reformen in den neuen Mitgliedsstaaten. Als Anerkennung dieser Leistungen mühen wir uns ab, im Europa der 15 eine Invasion polnischer, tschechischer und slowenischer Arbeiter aufzuzeigen, führen uns angstvoll die verheerende Ausgabenlast im Bereich des Sozialwesens vor Augen und beschwören das Gespenst der Abwanderung der Unternehmen der alten 15 zu den neuen 12.
Wir sollten uns stattdessen lieber den politischen Notwendigkeiten zuwenden – grenzüberschreitenden Herausforderungen wie dem Umgang mit Wasser, Luft und den Weltmeeren, Umweltschutz und nuklearer Sicherheit, einer Regelung über giftige Inhaltsstoffe zum Schutz der Verbraucher (REACH), rechtlicher Zusammenarbeit, der Vereinigung des Kontinents, dem Ausbau der Nachbarschaftspolitik und der euro-mediterranen Partnerschaft, einem Stabilisierungs- und Annäherungsprozess mit den westlichen Balkanstaaten, einem Entwurf europäischer Energiepolitik.
Die EU kann sich nicht mehr auf ihre eigenen Erdöl- und Gasvorkommen in der Nordsee verlassen, deren Schwinden man fast mit bloßem Auge verfolgen kann. Bereits im November 2000 hat die Europäische Kommission ein alarmierendes Grünbuch über die Engpässe in der energetischen Versorgungslage vorgelegt. Ohne eine radikale Umstellung des Verbrauches und der Energieproduktion wird die Abhängigkeit der EU im Jahre 2030 bei 70 Prozent liegen – aufgeschlüsselt bedeutet dies, dass 80 Prozent der Gaslieferungen aus dem nichteuropäischen Ausland kommen, 66 Prozent der Kohle und 90 Prozent des Erdöls. Was die Uranvorkommen angeht, ist die EU schon heute fast ausschließlich auf Importe angewiesen. Diese Zahlen stimmen nicht eben zuversichtlich, zumal die Länder, auf die Europa angewiesen ist, sich sämtlich und seit langem durch politische und wirtschaftliche Instabilität auszeichnen.
Es wächst also die Bedeutung alternativer Projekte – etwa des Plans, Erdöl aus dem 1.760 Kilometer entfernten Baku über die Türkei in die EU zu schaffen, oder der Fertigstellung der „Nabucco“-Pipeline, um die EU auch mit Erdgas aus Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan, später möglicherweise sogar aus Iran zu versorgen.
In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage nach der Integration der Energiepolitik in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) auf – wenn auch unter supranationalen Vorzeichen. Denn solange die Staaten damit beschäftigt sind, sich ihre Partikularinteressen streitig zu machen, ist es nicht verwunderlich, wenn die EU ein Akteur bleibt, dessen Politik sich auf Reaktionen beschränkt. Dann folgt – wie im Irak – die europäische Diplomatie den amerikanischen Bomben und koordiniert den Wiederaufbau und die humanitäre Hilfe.
Dabei wird die Chance vertan, im Vorfeld strategische Aufgaben wahrzunehmen, etwa die Organisation einer regionalen Konferenz über Wasserversorgung, bei der die betroffenen Länder Absprache und Verwaltung dieser lebenswichtigen Ressource gemeinsam hätten übernehmen können. Die generelle Kritik darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Europäische Union – trotz struktureller Unpässlichkeiten der Gasp – dank Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik einen unbestrittenen Beitrag zu Konfliktverhütung und geostrategischer Zusammenarbeit geleistet hat.
Die Energieversorgungssicherheit ist ein entscheidender Schritt in Richtung politische Unabhängigkeit. Die EU muss die Notwendigkeit erkennen, in erneuerbare Energien zu investieren – womit sie zugleich für neue Arbeitsplätze und für stabilere Energiepreise sorgen kann.
Eine nachhaltige europäische Energiepolitik muss die Entwicklung innovativer und umweltverträglicher Technologien und leistungsfähiger Materialien unterstützen. Das gilt besonders im Bereich von Sanierung und Hausbau, auf den in der EU 40 Prozent der verbrauchten Energie entfällt, sowie bei der Fahrzeugindustrie und der Herstellung von energiesparenden Elektrogeräten.
All diese Maßnahmen müssen außerdem von einem generellen Umdenken begleitet werden. Wir haben die Chance, die Welt zu verändern. Wir müssen handeln – während wir voller Zuversicht darauf warten, dass die Vereinigten Staaten einen Präsidenten wählen, der das Kioto-Protokoll respektiert und gemeinsam mit den Europäern das Protokoll in das Regelwerk der Welthandelsorganisation integriert.
Wenn wir schon beim Traum von einer besseren Welt sind, entsteht vor unseren Augen auch gleich der neue Verfassungsvertrag, der aus einem Konvent hervorgeht und am Tag der europäischen Wahlen mit zweifacher Mehrheit durch ein europäisches Referendum verabschiedet wird. Damit wird die Rechtsgrundlage für die Mitbestimmung des Europäischen Parlaments und den Kampf gegen den Klimawandel als Leitprinzip der politischen Praxis in der EU geschaffen. DANIEL COHN-BENDIT
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