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Zwischen Zelt & Außenwelt

Strenge Moralvorstellungen, klare Hierarchien und begrenzte Mobilität. Auch das ist Zirkus

VON JUDITH LUIG (TEXT) UND KARSTEN THIELKER (FOTOS)

Manchmal überlegen sie, ob sie nicht aufhören sollten. Der Arbeit ist schwer, das Geld knapp, und der Ruhm reicht oft nicht über die Nachmittagsvorstellung hinaus. Aber Zirkus ist kein Beruf, den kann man nicht einfach hinwerfen.

„Der Zirkus ist Mutters jüngstes Kind“, erklärt Tatjana Wickert, die älteste Tochter der Direktorin. 12 Jahre ist der Circus Kunterbunt alt, und seine Attraktion, die Schlange Jonathan, mittlerweile so groß, dass sie das ganze Jahr über im Winterquartier bleibt. „5 Meter sind zu viel für Kinder.“

Auch wenn sie gerade nicht in der Manege steht, legt Tatjana Wickert die Clownsrolle nicht ganz ab. Ihr Gesicht ist zwar ungeschminkt und ernst, und sie trägt einen abgewetzten Pulli, weil sie gerade eine Zeltplane gegen Sturm sichern musste. Doch ihre Schritte sind genauso hastig wie eben in der Manege, und immer wieder schiebt sie sich ihr rotes Hütchen resolut zurecht.

Mit 17 hatte Tatjana Wickert andere Pläne. Sie war Rennreiterin, ausgebildet in Hannover und viel in Frankreich unterwegs. Aber nach ein paar Jahren hat es ihr gereicht. „Da können sie dir noch so viel Geld zahlen“, winkt die Künstlerin ab, „Irgendwann willst du nach Hause.“ Zuhause, das ist ihre Clownsnummer, die sich noch aus dem Repertoire der Großmutter speist und die Mutter, die seit dem Tod des Vaters den Zirkus fest im Griff hat, und die darauf drängte, dass jedes der Kinder und Enkelkinder eine Ausbildung macht. Nur für den Fall.

Bei der ältesten Enkelin wiederholte sich das Spiel. „Die sollte studieren, die hat was drauf.“ Tierärztin hätte Virgilia werden sollen und sich nicht so abrackern wie die Mutter und die Großmutter. Aber die beendete ihre Schulkarriere lieber ohne Abitur und blieb bei der Familie. „Da kann man nichts machen“, sagt Tatjana Wickert und sieht nicht so aus, als hätte sie etwas gegen die Entscheidung der Tochter. Wogegen man allerdings etwas machen kann, sind die Verehrer der 16-Jährigen, Nachwuchs aus anderen Zirkussen, die abends im Fuhrpark vorbeischauen wollten. „Das gibt es bei mir nicht.“

Ohne den konservativ-engen Familienzusammenhalt könnten die 300 Kleinzirkusse Deutschlands ihre Planen einrollen. Immer wieder mal versucht einer eine bürgerliche Karriere, immer wieder mal kommt jemand dazu, der „gewohnt hat“, wie die Wickerts sagen. Aber im Großen und Ganzen spielt sich das Leben in dem Kosmos der Zirkusfamilien ab – sogar in Irland haben die Wickerts verwandte Artisten.

Doch die Träume der Sesshaften, nach denen Zirkusmenschen wild und frei durch die Lande ziehen, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Illusion. Der Circus Kunterbunt tourt ausschließlich durch Berlins Speckgürtel, die mageren wie die fetten Seiten. „Wenn man klein ist, kann man keine großen Sprünge machen“, sagt Mike Wickert. Zwischen 2.000 und 4.000 Euro – je nach Strecke und Platz – kann das Umsetzen des gesamten Fuhrparks kosten. Was eingenommen wird, wird durch alle geteilt. Feste Gagen zu zahlen kann sich die Direktorin nicht leisten.

Direkt nach der Wende war in der Baustelle Berlin große Aufbruchsstimmung bei den Artisten. „Da konnte man richtig Geld verdienen“, erinnert sich Mike Wickert. Doch jetzt werden die Grünflächen selten, Berlin ist langsam dicht. Und je mehr die Zirkusse auf die Randlagen verdrängt werden, desto weniger Publikum kommt.

Zirkus ist auch im durchorganisierten 21. Jahrhundert immer noch eine Parallelgesellschaft. Zahlen, Daten oder Fakten über die Welt der Schausteller herauszufinden ist schwierig. Probleme klärt man unter sich, an der öffentlichen Hand scheint kein großes Interesse zu bestehen. Deswegen hat die Zirkuswelt mit den öffentlichen Systemen, die Statistiken und Datenbanken führen, wenig zu tun. Noch nicht mal die Künstler-Sozialkasse weiß etwas. „Zirkusse gehören nicht zur Kunst“, erklärt Dietmar Winkler, „sie sind Gewerbebetriebe. Es gibt auch keinen Verband oder Vergleichbares.“ Winkler hat ein Buch geschrieben „Wie beerdigt man einen Zirkus?“, indem er beschreibt, wie der DDR-Staatszirkus nach dem Ende der Organisation von oben zerfiel.

In den Hochseilakten der Großzirkusse jonglieren die Artisten mit ihrem Leben. „Todesversprechen“ nennt man das in der Fachsprache. In den kleinen Zirkussen ist das Todesversprechen ein anderes. Hier steht der ganze Betrieb jeden Tag neu am Abgrund – ohne Seil und doppelten Boden. Doch in diesem Fall dürfen die Zuschauer die Gefahr nicht spüren.

Zirkus muss für das Publikum eine gemütlich nostalgische Kindheitserinnerung bleiben. Eine, die nie grundsätzlich verändert wird, die von Generation zu Generation mit dem festen Inventar von Clownsnummern, Mädchen in Glitzeranzügen und Ponyreiten in der Manege weitergegeben werden kann. Auch wenn der sonstige Leben Bioprodukten bestimmt ist, erklärt Tatjana Wickert: „Bei uns wollen die Leute rote Äpfel, Zuckerwatte und Popcorn.“

JUDITH LUIG, 32, wäre gerne Trapezkünstlerin geworden, ist jetzt aber als Redakteurin im taz.mag auch sehr glücklich, KARSTEN THIELKER, 41, Fotograf, kann als einzige Akrobatiknummer auf den Auslöser drücken

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