BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER: Der neue Chic für Heineken-Studenten
Natalie Tenbergs Gastro- und Gesellschaftskritik: Der Goldene Hirsch im Prenzlauer Berg heißt jetzt Mi Lounge – und fühlt sich dementsprechend an
Die Kneipenszene in Berlin-Prenzlauer Berg hängt an der Flohmarkttasse, am Glas vom Trödler, dem Sammelsurium zusammengesuchter Stücke. Den Gästen geht es genauso, sie sehen ja selbst mitunter aus, als hätten sie alle bei ihrer besten Freundin übernachtet und ihre Klamotten angezogen, obwohl die zwei Meter zehn oder eben einsfünfzig misst. Die elegantere, wenn auch zur Uniformität neigende Klientel, die gerne die schickeren Läden im Kiez aufsuchte, scheint abends ab acht aus dem Stadtbild um die Schönhauser Allee herum verschwunden zu sein.
Sind sie zu Hause beim Nachwuchs, oder leben sie jetzt in Hamburg? Selbst die Bar, die früher die abendliche Heimat dieser Menschen, wird zur Osterzeit eher von Retro-Spaniern und Zweitsemestern frequentiert. Auch heißt sie nicht mehr „Zum goldenen Hirschen“, sondern hat den glatteren, wenn auch austauschbareren Namen Mi Lounge angenommen.
Obwohl die Lokalität bis auf wenige Details die gleiche ist, hat sich der Gesamteindruck völlig verändert. Die hohen Ledersessel stehen noch immer am Tresen in der schlauchartigen Bar, auch wenn sich an ihnen erste Verschleißerscheinungen bemerkbar machen. Beschallt wird der Laden mit einer nichtssagenden Mischung aus europoppigem Elektro-Sound und Gwen Stefani, auch wenn ein Hiphop-Konzert an die Wand gebeamt wird.
Das Exklusive ist raus aus der Mi Lounge, vielleicht auch, weil abends um halb elf, wenn das Lokal eigentlich ganz den Gästen gehören sollte, die Getränke einmal quer durch den Laden geliefert werden. Vielleicht aber auch, weil der Student mit dem Flusenbart jetzt nicht nur Bier, sondern ausgerechnet Heineken aus der Flasche trinken möchte. Den Wirt muss das traurig machen, da hat man alles im Angebot und muss stattdessen ein übles, aber hochgejazztes Schädelbräu servieren. Dass der Wirt sich nichts anmerken lässt, sondern mit guter Miene das Bier serviert, gehört zu den neuen Stärken der Mi Lounge. Die Gäste werden endlich mal freundlich und zuvorkommend bedient, das war in dieser Stelle nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Die Cocktailkarte ist lang, die Getränke sind gut, am Snack-Konzept könnte noch gefeilt werden. Spätestens nach zwei Stunden und zwei Daiquiries reichen Salzstangen nicht mehr aus, um den Alkoholpegel zu kompensieren. Aus der Mi Lounge geht man schweren Herzens, nicht weil es hier so schön war, sondern weil die Zeiten, in denen man so einen Laden schön gefunden hätte, vorbei sind. Die Zielgruppe aber bleibt gerne und zecht weiter.
MI LOUNGE, Lychener Str. 43, 10437 Berlin, (0 30) 44 67 79 55, www.milounge.de, U-Bahn Eberswalder, tägl. ab 19 Uhr, Cocktail-Happy-Hour 19–22 Uhr, Cola 2 €, Martinis ab 7 €
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