: Unsanfte Gedanken im sanften Lauf
MANIERISMEN I „Der große Fall“, die neue Erzählung von Peter Handke, ist eine Offenbarung – allerdings eine traurige. Dranbleiben sollte man bei diesem Autor aber natürlich dennoch
VON JÖRG MAGENAU
Ratternde Rollkoffer sind die Pest. Abzulehnen des weiteren: Handys, Sommerzeit, neue Rechtschreibung, joggende Präsidenten und überhaupt Läufer aller Art. Zu bevorzugen ist ein schreitendes Gehen, auch rückwärts, gelegentlich ein spielerisches Überklettern von Hindernissen wie umgestürzten Bäumen und bei Bedarf der „Sanfte Lauf“. Der Held in Peter Handkes Erzählung „Der große Fall“ ist affektiert bis in die Bewegungen hinein. Ein Wandler durch die Welt, ein Pilger: So versteht er sich.
Es handelt sich dabei um einen Schauspieler, der nicht mehr schauspielern will, nun aber die Rolle eines Amokläufers angenommen hat und am liebsten davonlaufen möchte. Er erwacht morgens durch ein Gewitter und alleingelassen im Haus und im Bett einer Frau, „die ihm gut war“: Schon im Liegen ist er affektiert. Er steht auf, spült, lässt eine Tasse fallen, klebt die Bruchstücke wieder zusammen, liest, saugt, bügelt und denkt sich dies und das. Ende des ersten Kapitels. Dann geht er los, hinaus in den Wald und durch ihn hindurch in die „große Stadt“, die „Weltstadt“. In einer Brombeerhecke zerreißt er sich das Hemd, er trifft auf die Zelte von Obdachlosen, begegnet Jugendlichen mit Baseballschlägern, die ihm aber nichts antun wollen, sondern tatsächlich Baseballspieler sind, Paare, Passanten, immer wieder enervierende Jogger, Beerenpflücker und Börsenmakler, ein trauernder Witwer, zwei Birken und ein Priester beim Abendmahl: Der Mann hat es nicht leicht.
Auch „Der große Fall“, der für das Ende dieses Tages angekündigt wird, bleibt unbestimmt. Vieles ist absichtsvoll unklar in dieser Prosa des Vielleicht und Vielleicht-auch-nicht. „Sie weinte. Oder lachte sie vielmehr?“ Und was ist mit den brutalen Nachbarschaftskriegen, die der Schauspieler so heftig herbeifantasiert, dass er all den mit viel Verachtung betrachteten Alltagsmenschen am liebsten „mit einem Handkantenschlag das Genick brechen“ würde, bis ihnen „das Gehirn aus den toten Augen spritzt“?
Die Welt ist so beschaffen, dass der friedfertige, sanftmütige Naturgänger darin zu einem hassenden Menschenverächter werden muss. Vielleicht ist es das, was Peter Handke in diesem eigentümlichen, rätselhaften Buch demonstrieren wollte. Sein Schauspieler (den er auch so nennt: „mein Schauspieler“) ist dabei nicht mehr als eine Hand- oder eher Kopfpuppe, eine Figur, dazu geschaffen, unentwegt Handkegedanken zu denken und Handkegedanken laut auszusprechen. Sein Wald ist ein Handkewald am Rand von Paris (wo Handke lebt und täglich spazieren geht), die große Stadt ist, auch wenn sie namenlos bleibt, Paris. Jedenfalls wird dort Französisch gesprochen, so dass auch der joggende Präsident sehr konkret Gestalt wird. Dennoch ist die Welt im Buch eine reine Kopfwelt, nichts als ausgedacht, und anstatt wirklich zu beobachten – „ergebnisoffen“, wie Angela Merkel das formulieren würde –, ist die Welt bei Handke nur ein Vorwand, um seine gesammelten Vorurteile kundzutun. „Der große Fall“ ist das zivilisationsmüde Pamphlet eines sich hypersensibel gerierenden Arroganzpinsels. Weil er sich im Grunde nur für sich selbst interessiert und seine Empfindungen für kostbarer hält als alles andere, sieht er nicht viel und muss immerzu vor sich hin schimpfen.
„Der große Fall“ leidet an einer blutarmen Gegenstandslosigkeit. Die poetische Weltsicht, die Handke einst in Serbien einer journalistischen, interessengeleiteten Wahrnehmung entgegensetzen wollte, läuft hier ins Leere. Schlimmer noch: Handkes andersgerichtete Wahrnehmung ist nicht minder ideologiegesteuert, nicht offen, sondern borniert. So gesehen ist „der große Fall“ eine Offenbarung, allerdings eine traurige. Es ist aber nicht der Mangel an Handlung, der dieses Buch so öde macht, sondern die papierne Ausgedachtheit, die verblasene, wichtigtuerische Sprache und ein zu Manierismen neigender Stil.
Immer wieder greift Handke zu Verdoppelungen, um etwas zu verstärken: „Obwohl er die Augen aufschlagen wollte und wollte, gelang es ihm nicht und nicht.“ Eine besondere Vorliebe entwickelt er für ungeschickte Wendungen, in denen das Subjekt genauer bestimmt werden muss. Wenn da von einem Hungernden die Rede ist, heißt der nächste Satz. „So mächtig war er, dass er, der Hungrige, nein, der Hungernde, sich den Tränen nahe fühlte.“ Sexuell betrachtet – dies als Beispiel fürs Gedankenniveau des Schauspielers – sind Männer hungrig und Frauen durstig. Oder war’s umgekehrt? Man muss es nicht wissen. Der räsonierende Schauspieler will ja gar kein Publikum mehr, sondern nur noch seine Ruhe. Lassen wir ihn also dahingehen im „Sanften Lauf“, dem „großen Fall“ entgegen, was immer das auch sein mag.
Peter Handke schreibt bestimmt noch interessantere Bücher als dieses.
■ Peter Handke: „Der große Fall“. Suhrkamp, Berlin 2011, 280 Seiten, 24,80 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen