: Lass uns über Produktion reden
Knut, der weltberühmte Berliner Eisbär, ist nicht einfach nur putzig. Als lebendig gewordener Teddy verkörpert er das Verhältnis des modernen Menschen zum Tier. In seiner ganzen Ambivalenz und geprägt von Gewinnstreben, Liebe und Machtwillen
VON CORD RIECHELMANN
Es waren zwei Meldungen in den letzten Wochen, in denen, wenn man sie zusammen las, auf merkwürdige Weise zusammenkam, was zusammengehört. Zum einen war da die von dem Tierschützer, der im ganzen Knut-Rummel kurz die Stimmung störte, als er meinte, man hätte das Eisbärenbaby besser sterben lassen sollen. Und die andere ist noch ganz frisch. In ihr wird mitgeteilt, dass der 33-jährige Hedgefonds-Manager John Arnold im Jahr 2006 2 Milliarden Dollar Gehalt kassiert hat.
Was aber hat die Forderung nach dem Tod eines Bärenbabys mit hemmungslosem Geldverdienen zu tun? In beiden Fällen geht es, auf sehr verschiedene Weise allerdings, um Produktion. Um jenen Fetisch, der früher mal die Entwicklung der Produktivkräfte hieß und heute meist nur noch schlicht: die Wirtschaft. Wobei der Übergang vom Begriff der Produktivkräfte zum Begriff der Wirtschaft natürlich auch eine Verdeutlichung der Verhältnisse beinhaltet. Während man bei Produktivkräften noch an Menschen, Fertigungsmethoden und verwertbare Waren denkt, konnotiert Wirtschaft nur noch damit, dass es laufen, dass es boomen muss, sprich: dass Gewinne gemacht werden müssen. Das verbindet Knut mit John Arnold. Mit dem einen werden die Gewinne gemacht, die der andere abgreift. In diesem Licht bekam auch die Forderung des Tierschützers einen anderen Sinn als bei der ersten Lektüre der Meldung.
Zuerst dachte ich, was das denn für ein Heini sei, der sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwingt. Bis mir die Tierschützerin wieder einfiel, die auf einem Tierrechtskongress neben mir saß und erst Hautausschlag bekam, um dann ihr Gesicht in ihren Händen zu vergraben. Gesehen hatten wir währenddessen gleichzeitig mit völlig unterschiedlichen Reaktionen Ausschnitte aus einem Film eines Verhaltensbiologen, die Labormäuse zeigten, die durch falsche Haltung vollkommen ruiniert waren. Erst in dem Zusammenhang wurde mir klar, dass es dem Tierschützer mit seiner Forderung nach dem Sterbenlassen des Bären auch um dieses Todesverhältnis geht.
Knut steht nämlich auf eine besonders perfide Weise für den „Rassismus des Menschlichen“, wie Jean Baudrillard in seinem Hauptwerk „Der symbolische Tausch und der Tod“ das Ausschlussverhältnis der Menschen zu den Tieren nennt. Im Fall Knut ist nur das Vorzeichen verkehrt. Die gewöhnliche Geringschätzung, die wir für das Tier empfinden, ist in Beschützerdrang umgeschlagen. Das von der Mutter verstoßene Baby wird in ein Netz von Fürsorge eingespannt, das in der Geschichte ohnegleichen ist. Daran ist natürlich erst einmal überhaupt nichts schlecht. Es wäre tatsächlich ein moralischer Fortschritt, würden Menschen die Hilflosigkeit anderer Lebewesen mit dem Rückblick auf die völlige Abhängigkeit von Anderen in der eigenen frühen Ontologie anerkennen und in ihr Verhalten aufnehmen.
Aber genau das drückt sich eben in der Zuwendung zu Kurt nicht aus – und in diesem Zusammenhang ist es auch kein Zufall, dass es einen Bären trifft. Tiere ziehen historisch in dem Moment als Spielzeuge und Stofftiere in die Kinderzimmer ein, in dem sie aus dem Haus ausziehen. Im 19. Jh. werden in den sich entwickelnden Industrieländern die vorher bestehenden „Wohngemeinschaften“ von Kühen, Schweinen, Hühnern und ihren menschlichen Haltern aufgelöst. Damit beginnt nicht nur die industrielle Haltung und Produktion von Tieren, sie werden auch rechtlich endgültig aus der menschlichen Sphäre entfernt. Bis ins 18. Jh. wurden etwa Pferde, die den Tod eines Menschen verursacht hatten, nach demselben Recht förmlich verurteilt und gehenkt wie Menschen, die das Gleiche getan hatten. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Das ist natürlich grausam und zu verurteilen, wie jede Todesstrafe zu verurteilen ist. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, den Weg aufzuzeigen, in dem Menschen und Tiere getrennt werden, um dann heute in einer Situation zu landen, in der 90.000 Leute über Ostern ihr Mitgefühl mit einem Bärenbaby bekunden und dieselben Leute gleichzeitig die Planung, die Errichtung und den Betrieb einer Schweinemastanlage in Brandenburg für 180.000 Tiere für normal halten und ohne moralische Bedenken hinnehmen.
Solange Hühner noch Trixi, Charlotte oder Emma hießen und am und ums Haus lebten, wurden ihnen die Eier zwar auch weggenommen, und sie wurden auch geschlachtet. Der Prozess der Produktion blieb aber nahe bei den Menschen. Das ist natürlich nach ökonomischen Kriterien ineffektiv. Immer gibt es Überschneidungen zwischen Mensch und Tier. Der eine Bauer mag eine kranke Ziege so, dass er sie mit durchfüttert, obwohl sie weder Milch noch Fleisch gibt. Ein anderer schlachtet sein Schwein zu spät, sodass es schon zu fett ist und er das Fleisch nicht mehr verkaufen kann, und so weiter. Das macht die Produktion außer von den Jahreszeiten abhängig von Unberechenbarkeiten wie Stimmungen und Launen. Das ist nach Schiller noch die Unfreiheit des Menschen in der Natur. Die Freiheit und damit den freien Handel gibt es nur in der Trennung des Menschen vom Tier. Erst durch die Abspaltung des Tiers aus dem – natürlich abstrakt – Menschlichen wird die industrielle Produktion von Tieren möglich gemacht.
Und diese Trennung ist heute in den Industrieländern endgültig vollzogen. Als Erster hat es der amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair 1906 erfahren, nachdem sein Roman „Der Dschungel“ in den USA erschienen war. Sinclair hatte darin die Zustände in den Chicagoer Großschlachthöfen realistisch beschrieben. Mit dem Ergebnis, dass einige Zeit später die Corned-Beef-Preise in den Keller fielen und der Absatz stagnierte, um sich dann wieder auf dem Niveau vor Erscheinen des Romans einzupendeln. Sinclair meinte später dazu, er habe den Kopf der Amerikaner im Visier gehabt, aber nur den Bauch getroffen. Ähnlich kann man hierzulande den Verlauf des BSE-Skandals oder der Vogelgrippe schildern. An den Produktions- und Haltungsbedingungen von Rindern und Hühnern haben beide trotz des sogenannten Biobooms nicht das Geringste geändert. Und damit natürlich auch nicht an den Gefahren, die von Massenhaltung ausgehen.
Was den Schluss zulässt, dass es weder bei der Vogelgrippe noch bei BSE um den Schutz von Menschen oder, im Gründeutsch, Verbrauchern ging. Beide Skandale hatten allerdings zwei ökonomisch wünschenswerte Nebeneffekte. Im BSE-Fall wurden die riesigen Rindfleischberge, die die Überproduktion bis dahin angehäuft hatte, durch Notschlachtungen abgebaut und das Fleisch, das man hier nicht mehr verkaufen konnte, wurde in Nordkorea „entsorgt“. Und während der Vogelgrippephase führte die Aufregung zu einem immensen Absatz von Grippemitteln, obwohl nicht einer von denen, die sich das Zeug leisten konnten, an der noch gar nicht existierenden Menschenvogelgrippe erkrankte. Resultat war also das, was heute selbst jeder Gewerkschaftsfunktionär oder Betriebsrat bei Christiansen fordert: eine Steigerung des Konsums.
Das alles folgt den Regeln des liberalen rationalen Denkens und läuft in den Bahnen ihres ökonomischen Kalküls. Für den Knut-Zusammenhang ist aber etwas anderes wichtig. Warum empfand die Bevölkerung während der BSE-Krise die Notschlachtung einiger hunderttausend Rinder als Katastrophe, wo doch ein Mehrfaches von ihnen alljährlich geschlachtet wird? Der Ökologe Joseph H. Reichholf, der in seinem Buch „Der Tanz um das goldene Kalb“, einer Analyse des europäischen Ökokolonialismus, diese Frage stellt, kommt dabei auf eine ganze Reihe von scheinbar irrationalen Beweggründen: das Mitleid mit Tieren im Fernsehen bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber der alltäglichen Verwertung. Wie Baudrillard auch sieht er den Ursprung dieser moralischen Spaltung im 19. Jh. Die Trennung von Mensch und Natur oder Tier führt nämlich mit der Gleichgültigkeit gegen die Industrieproduktion zu einem idealistischen Natur- und Tierbild, das sich in Mitleid ausdrückt und institutionell zum Beispiel Tierschutzvereine hervorbringt.
Diese Bewegung wird nicht mehr durch den Umgang mit realen Tieren in Gang gesetzt, sondern durch Spielzeuge, Märchen und heute Filme. Die Beliebtheit von Bären kommt daher. Kein Kind noch im 18. Jh. hätte einen Bären süß oder kuschelig gefunden. Im 19. Jh. aber gehören Bären zu den ersten Stofftieren, die ins bürgerliche Kinderzimmer einziehen.
Und wie das Beispiel Knut zeigt, vermögen dann auch reale Tiere emotionale Energien freizusetzen, die einen auch wirtschaftlich einträglichen Boom nach sich ziehen. Bei Knut hat dabei die Verwertung nicht mal schlimme Folgen für seine Existenz. Im Gegenteil, er verdankt ihr sein Leben. Das ist aber bei Bären in Zoo und Zirkus nicht der Normalfall und bei all den Tieren in Massenhaltung erst recht nicht. Für Tierschützer, zumal solche, die sich um Tierrechte bemühen, muss das Wirtschaftsfaktor Knut auch deshalb ein Horror sein. Das Mitgefühl mit dem Bären stammt aus derselben gesellschaftlichen, ökonomischen und psychischen Bewegung, die die Bedingungen schafft, die Tierrechtler beenden wollen. Baudrillard sagt es drastisch so: „Durch dieses rassistische Mitleid verdoppelt der Humanismus seine Vorherrschaft über die ‚niederen Geschöpfe‘.“
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