: 3! 2! 1! 0!
Wie französische Studenten in Lyon den Wahlabend erlebt haben – und welche Chancen sie den beiden verbliebenen Kandidaten einräumen: „Hauptsache, Sarkozy verhindern“
Nach einer gestern veröffentlichten Umfrage der Gratiszeitung Métro und des Senders Radio Classique haben François Bayrou und Ségolène Royal unter den Neuwählern beide 22 Prozent geholt, werden aber, der nationalen Tendenz folgend, mit 27 Prozent von Nicolas Sarkozy übertroffen.
Olivier Besancenot von der Revolutionär-Kommunistischen Liga (LCR) konnte 9 Prozent der Neuwähler hinter sich vereinen, das sind immerhin 5 Prozent mehr als bei der Gesamtbevölkerung (4,04 Prozent). Damit schlägt der Kandidat der extremen Linken sogar seinen Konkurrenten am rechten Rand, Jean-Marie Le Pen, der bei den Neuwählern nur acht Prozent holte (gegen 10,44 Prozent in der ganzen Bevölkerung).
AUS LYON SUSAN WEITERSHAGEN
Ein kleiner blauer WG-Salon im sechsten Arrondissement von Lyon. Es ist Sonntagabend, der Abend, dem Frankreich seit Monaten entgegenfiebert. Hier im Osten des Landes, gut 450 Kilometer entfernt von Paris, weit ab vom Fokus des Medieninteresses, von Parteizentralen und Straßenkundgebungen, steht die Luft – trotz weit geöffneter Fenster. Umgeben von überquellenden Aschenbechern und Chipspackungen quetschen sich ein Dutzend Franzosen vor ein kleines Fernsehgerät. Es ist noch gut eine Stunde Zeit bis die erste Hochrechnung veröffentlicht wird, doch schon jetzt helfen selbst die Zigaretten nur noch leidlich gegen die Aufregung.
Für alle im Raum ist es das erste Mal, dass sie den Ausgang einer Präsidentschaftswahl erwarten, an der sie selbst teilgenommen haben. Benjamin, der jüngste unter ihnen, ist erst vor kurzem 18 geworden. So wie die meisten seiner Freunde ist der Student das Wochenende über zu seinen Eltern gefahren, um im dortigen Wahlbüro seine Stimme abzugeben. Auch die 19-jährige Eva ist gerade erst aus Mâcon, einer kleinen Stadt nördlich von Lyon, zurückgekehrt.
Sie hat ihre Stimme der Sozialistin Ségolène Royal gegeben, „nicht aus Überzeugung oder weil mich ihr Programm fasziniert, sondern weil mir das als einzige Möglichkeit erschien, Sarkozy zu verhindern.“ Ein Mechanismus, der an die deutsche Anti-Stoiber-Wahl von Gerhard Schröder bei der Bundestagswahl 2002 erinnern lässt.
Auch ihr Kumpel Fadhel hat aus Kalkül und nicht aus Überzeugung für die Kandidatin der Sozialistischen Partei gestimmt: „Es ging mir nicht nur darum, gegen Sarkozy zu stimmen. Dass der in die Stichwahl kommt, damit rechne ich.“ Er habe vor allem verhindern wollen, dass sich das Trauma von 2002 wiederhole, als der rechtsextreme Kandidat der Front National, Jean- Marie Le Pen, unerwartet in die Stichwahl gegen Jacques Chirac kam. „Der Schock von 2002 hat die Wahl sehr vieler Leute und vor allem der jungen beeinflusst“, glaubt der Dreiundzwanzigjährige. „Ohne Le Pen und Sarkozy vor Augen, nur aus meiner politischen Überzeugung heraus, hätte ich im ersten Wahlgang Olivier Besancenot gewählt.“ Auch wenn er wisse, dass es utopisch sei, dass der Kandidat der LCR, der Revolutionär-Kommunistischen Liga, mehr als eine kleine Minderheit der Franzosen für seine Ideen gewinnen könne.
„Früher haben, glaube ich, gerade die jungen Erstwähler im ersten Wahlgang ein bisschen utopisch, aber überzeugt gewählt.“ Er aber hat „aus Vernunft“, wie er sagt, seine Stimme schon im ersten Wahlgang Ségolène Royal gegeben. Damit ist der Pharmaziestudent an seiner Fakultät allerdings in der Minderheit. „Die meisten meiner Kommilitonen haben Sarkozy gewählt“, erklärt er mit gleichmütiger Miene, „aber ich komme trotzdem gut klar mit denen.“
Es ist 19.30 Uhr, und das aufgeregte Hin-und-her-Zappen zwischen den verschiedenen Fernsehkanälen nimmt zusehends hysterische Züge an. France 2 zeigt ein Mädchen, das ein T-Shirt mit „I love Sarko“-Aufdruck trägt. Fadhel verzieht das Gesicht: „Dieses ganze Showgehabe finde ich abstoßend.“ Doch es ist allgegenwärtig auf Frankreichs Straßen. Was Guido Westerwelle im deutschen Bundestagswahlkampf 2002 nicht gelungen ist, hat der Kandidat der UMP geschafft: Viele seiner Anhänger unter den Erstwählern sind nicht mehr bloß „militants“, sie sind Fans, und „Sarko“ ist ihr Star. Adrett gekleidete Menschen um die 20 laufen durch Lyon, skandieren „Sarko! Président!“, verteilen Croissants am U-Bahn-Ausgang und sind stolz darauf, konservativ zu sein. Ein einzigartiges Phänomen, das einhergeht mit einem wiederkehrenden Stolz vieler junger Franzosen, Teil einer in den vergangenen Jahrzehnten eher verpönten Bourgeoisie zu sein.
So enthusiastisch seine Anhänger den ehemaligen Innenminister feiern, so inbrünstig verabscheut ihn die Linke. „Dieser Typ ist gefährlich!“, sagt Alexis, ein 23-jähriger Ökonomie-Student. „Vor allem sein autokratischer Stil macht mir Angst.“ Darum hat auch Alexis für Ségolène Royal gestimmt. Neben ihm sitzt sein Freund Olivier. Um Sarkozy zu verhindern, hat der angehende Ingenieur den Zentrumspolitiker François Bayrou (UDF) gewählt. „Ich glaube, dass es ihm eher als Ségolène Royal gelingen kann, Sarkozy zu schlagen“, erklärt er zwischen einer Zigarette und einer Hand voll Erdnüsse. „Mich hat die Idee überzeugt, das gespaltene Frankreich durch eine Regierung aus linken und rechten Ministern zu überwinden. Auch wenn ich mich für Politik nicht besonders begeistern kann.“ Jetzt aber, wenige Minuten vor der Veröffentlichung des Ergebnisses, sei selbst er etwas aufgeregt. Auf die Frage, ob er junge Leute kenne, die sich für Politik gar nicht interessierten, blickt er ein wenig verdutzt drein. Ob es denn keine allgemeine Politikverdrossenheit unter den jungen Wählern gebe, wie sie in Deutschland immer wieder beklagt wird? „Non, non! Dafür war 2002 zu einschneidend.“
Ähnlich geht es der 20-jährigen Virginie. „Ich habe meine Meinung, was die Politik angeht“, sagt sie. „Ich weiß, auf welcher Seite ich stehe. Auch wenn ich mich nicht als einen Menschen bezeichne, der besonders politisch ist.“ Ganz anders ihre Freundin Eva. Noch zehn Minuten bleiben bis zur Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen. Eva rauft sich die Lockenmähne. „Es ist schrecklich, einfach schrecklich. Ich erinnere mich noch genau, wie sie 2002 auf TF 1 um 20 Uhr die Köpfe aller Kandidaten eingeblendet haben. Die wurden immer kleiner und kleiner und plötzlich erschienen die Köpfe von Chirac und Le Pen auf dem Bildschirm.“
Vor allem der private Fernsehsender TF 1 macht aus der ersten Veröffentlichung der Hochrechnungen auch in diesem Jahr wieder eine Inszenierung erster Güte. Seit dem Beginn der Sendung ist eine Uhr eingeblendet, die auf die Zehntelsekunde genau die noch verbleibende Zeit einblendet. Die letzten Sekunden schließlich werden, von einem lauten Ticken begleitet, heruntergezählt. Der Einzige, der jetzt noch ruhig bleibt, ist Fadhel, der das Ergebnis schon vorher im Internet gefunden hat, aber mit einem einmütigen „Ta gueule!“ („Halt den Mund!“) daran gehindert wurde, den anderen davon zu erzählen. Augenscheinlich gehört dieser 20-Uhr-Kick mit zur Inszenierung eines nationalen Ritus, der vor dem Bildschirm begangen wird.
Und wehe, jemand wie der 18-jährige Benjamin will, dank seiner guten Kontakte nach Paris, das Ergebnis schon vor 19.30 Uhr ausplaudern. Der wird kurzerhand in den Spätshop um die Ecke geschickt. „Es ist kaum jemand auf der Straße“, erzählt er, „fast wie beim Finale der Weltmeisterschaft.“ „Also ich kenne niemand, der jetzt nicht vor dem Fernseher sitzt“, pflichtet Eva ihm bei. „Mal abgesehen von Luca, der muss arbeiten.“ Eva stockt, greift nach der Hand von Benjamin. „3! 2! 1! 0!“ zählt der Moderator von TF1 herunter. Bei „Null“ erscheinen zwei sich drehende Würfel, halten plötzlich inne und zeigen zwei Gesichter: Nicolas Sarkozy und Ségolène Royal. Ein kurzer Freudenschrei, der aber ebenso schnell wieder verebbt, wie er gekommen ist. Zwölf Augenpaare fixieren die unter den Fotos angebrachte Prozentangabe: 30 Prozent für Sarkozy, 25,2 für Frau Royal. „Mon Dieu!“, entfährt es Eva. „C’est grave!“ „Das ist ja schrecklich!“
Ein paar nicht zitierfähige Beschimpfungen in Richtung Bildschirm später, werden auch die Ergebnisse der anderen Kandidaten eingeblendet. Man sieht förmlich die Rechenmaschinen in den Köpfen der Erstwähler rotieren. Welche Stimmen werden wohin wandern? Ist es überhaupt noch denkbar, dass Royal Sarkozy im zweiten Wahlgang schlagen kann?
Für Olivier, der im ersten Wahlgang für den Kandidaten der UDF gestimmt hat, ist klar: „Ich will Sarkozy verhindern. Also wähle ich Royal.“ Trotzdem findet er, dieser Frau fehle einfach das nötige Charisma. „Ich bin nicht gegen ihre Ideen, aber ich finde ihre Person nicht überzeugend.“ Auch dass die Sozialistin nach Bekanntgabe der Ergebnisse noch gut eineinhalb Stunden auf sich warten lässt, findet Olivier enttäuschend. „Die spricht von einem lächelnden Frankreich, bringt aber selbst die ganze Rede über kaum den Hauch eines Lächelns zu Stande.“ Zu allem Überfluss versagen während der Rede von Frau Royal auch noch kurzzeitig die Scheinwerfer im Saal.
Ohne technische Pannen und gut eine Stunde früher schafft es Nicolas Sarkozy ans Rednerpult. „Es ist traurig, das zugeben zu müssen, aber der Mann hat einfach das bessere Timing“, fügt Fadhel müde hinzu. „Um 21.30 Uhr, da ist doch die Hälfte der Zuschauer schon im Bett oder hat zum Spielfilm umgeschaltet.“ Schließlich machen sich auch die meisten Freunde von Fadhel und Eva auf den Weg nach Hause. Fadhel macht den Fernseher aus und sammelt die Chipstüten ein: „Es ist halt trotzdem alles eine Frage der Inszenierung.“
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