: Graben und archivieren gegen das Vergessen
ERINNERN Viel ist nicht übrig vom Zwangsarbeiterlager in Rudow. Das wenige sichert Gregor Döhner. Danach wird gebaut
GREGOR DÖHNER, PROJEKTLEITER
VON GESA STEEGER
Ein gelber Baucontainer auf einem zugigen Parkplatz, zwischen Autobahn und Industriegebiet in Berlin-Neukölln, Ortsteil Rudow. Hier lagert Gregor Döhner seine Schätze: ein verrosteter Löffel, ein kleiner Haarkamm, ein paar zerbrochene Glasflaschen.
Döhner ist Projektleiter der Firma archaeofakt, ein archäologischer Grabungs- und Forschungsservice. Seit Anfang September dieses Jahres gräbt er sich durch Erdschichten des 37.812 Quadratmeter großen Grundstückes. Kartiert, sammelt Erinnerungen – alles im Auftrag des Bezirksamts Neukölln.
Denn das Gebiet, das Döhner und sein Team umgraben, ist Bauland und Bodendenkmal zugleich. Im nächsten Jahr soll hier die Clay-Oberschule entstehen. Vorher muss aber die Vergangenheit des Geländes aufgearbeitet werden: Von 1939 bis 1945 stand hier Rudow I–III. Ein ehemaliges Zwangsarbeitslager.
„Viel ist nicht übrig geblieben von Rudow I–III“, sagt Döhner. Knietief steht der archaeofakt-Projektleiter in einem rund zwei Meter tiefen und etwa fünf Meter langen Loch und hält eine Geländekarte in der Hand. Wo jetzt das Loch klafft, stand früher eine der 16 Baracken, erklärt Döhner und zeigt auf einen Punkt seiner Karte. Zu sehen ist davon allerdings nichts mehr: „Alles weg“, sagt Döhner und zeigt in die sandige Leere. Sogar die Fundamente der Baracken seien aus dem Boden entfernt worden, erzählt er. Warum man die Spuren so eifrig beseitigt habe, kann Döhner nur vermuten: „Da wollte jemand mit der Vergangenheit abschließen.“
Erbaut wurde das Zwangsarbeitslager von der „Arbeitsgemeinschaft Rudow“, einem Zusammenschluss von Berliner Wirtschaftsunternehmen wie dem Elektronikhersteller Ehrich & Graetz AG oder dem Maschinenhersteller Albert Hirth AG. Zeitweilig lebten bis zu 1.500 Zwangsarbeiter auf dem Gelände – Frauen und Männer aus Russland, Polen, Frankreich und den Niederlanden. Hunger, Krankheiten und die harte Arbeit in den umliegenden Fabriken prägten den Alltag der Zwangsarbeiter. Hinzu kamen rassistische Diskriminierungen, Willkür und körperliche Gewalt.
Polin als Zeitzeugin
Nach dem Zweiten Weltkrieg nutze die Firma Eternit AG, ebenfalls Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Rudow, die einzig übrig gebliebene Baracke als Lager für chemische Stoffe. Etwa in dieser Zeit seien die Fundamente ausgegraben worden, sagt Döhner und zeigt auf eine gelbliche Sandschicht. Das seien die 1950er und 1960er Jahre, erklärt er. Damals sei das ganze Gebiet abgetragen worden.
Döhner führt weiter über das Gelände. Nächste Station sind die Überbleibsel eines Splitterschutzgrabens. Bei Luftangriffen hätten sich die Arbeiter hier in Sicherheit gebracht, erklärt er. „Etwa 20 Prozent des Grabens haben wir schon ausgegraben“, sagt Döhner und zeigt auf ein etwa zwei mal zwei Meter großes Loch in der Erde. Die meisten Erinnerungsstücke, die Döhner gefunden hat, stammen aus diesem Loch. Döhner und sein Team vermuten, dass der Graben nach Räumung des Lagers als Müllschacht benutzt wurde.
Die nächste Station auf Döhners Plan ist die einzige noch erhaltene Baracke, die frühere Küche des Lagers. Ein klappriges Holzhaus, dessen Fassade mit blauer Plastikfolie versiegelt ist. Die Baracke ist Baudenkmal. Das Bauforschungsbüro Schulz + Drieschner arbeitet an der Dokumentation des Gebäudes. Ist die Firma fertig, wird die Baracke abgerissen. „Alles asbestverseucht“, erklärt Döhner.
An einer Seitenwand der Baracke haben Schüler der Clay-Oberschule eine kleine Ausstellung aufgebaut. Gemeinsam mit dem Museum Neukölln und der Unteren Denkmalschutzbehörde machten sich die Schüler der 10. Klasse für eine Woche auf die Spuren der Vergangenheit des Geländes und beschäftigten sich mit dem Thema Zwangsarbeit in Berlin.
Neben Bauplänen stießen sie auf Interviews mit Zeitzeugen und ehemaligen Zwangsarbeitern. Eines der Interviews erzählt die Geschichte von Kazimiera Kosonowska. Von 1942 bis 1945 lebte die Polin in Rudow I–III. Im Gespräch berichtet sie von der Zwangsarbeit in einem Gummiwerk, von Hunger, dem Schrecken der Bombenangriffe und der Freude über die Befreiung durch russische Soldaten am 26. April 1945.
Noch bis Ende Oktober gehen die Grabungen weiter. Anfang 2015 soll gebaut werden. Gregor Döhner hofft, dass er bis dahin alle Schätze gehoben hat.
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