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berliner szenen Reine Nostalgie

Türkischer Polenkiosk

Seit wieder Sommer ist, will mein Freund Woitec wieder abends spazieren gehen, am liebsten in seinem Kiez um den Weichselplatz. Wir stehen auf einer schmalen Holzbrücke über dem Kanal. In keiner anderen polnischen Stadt, sagt Woitec, leben so viele Polen wie in Berlin. Mir sind hier noch nie Polen aufgefallen, sage ich. Das wundert mich nicht, meint Woitec, wir sehen aus wie die meisten Berliner. Nur eines können wir Polen nicht überspielen: unsere Nostalgie.

Woitec wäre nicht Woitec, wenn er nicht noch eine Überraschung in petto hätte. Du wirst es nicht glauben, sagt er, in dem Kiosk in der Wildenbruchstraße gibt es Lech! Lech ist Woitecs Lieblingsbier, keine in Baden gebraute Plörre, die man zurzeit überall im gentrifizierten Nordneukölln vorgesetzt kriegt, sondern echter polnischer Gerstensaft aus Gletscherwasser.

Wir also in den Laden. An der Kasse steht der Chef und grinst. Ihr seid doch Türken, frage ich, warum verkauft ihr polnisches Bier? Du bist Deutscher, fragt er zurück, warum kaufst du polnisches Bier? Seitdem sagt der Chef „Chef“ zu mir, und ich besuche den Kiosk fast täglich. Es gibt Räucherkäse, Marmelade und Sirup aus Polen, Wodka und sieben Sorten polnisches Bier. Da ist Pfand drauf, sagt der Chef, und ich bringe die robusten Halbliterflaschen, die in keinen deutschen Kasten passen, zurück.

Als ich gestern verzweifelt durch den Kiez irrte, um nachts um elf noch Batterien für mein Diktiergerät zu bekommen, landete ich am Ende in seinem Laden. Instinktiv griff ich nach einer polnisch beschrifteten Packung. Chef, fragte der Chef, brauchst du sie lange halten? Dann nimm lieber die anderen, riet er mir, die polnischen Batterien sind reinste Nostalgie.

TIMO BERGER

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