: Von bösen Dämonen und Essenskleckerern
ROMANPANORAMA Thomas Pynchon, Sergio Ramírez, Nadine Kegele, Lisa Kränzler, Lyonel Trouillot, Wilhelm Genazino, Christine Koschmieder, Meg Wolitzer, Yuri Herrera – welche Autoren es in diesem Herbst zu entdecken lohnt
Pynchons tolle Heidi
Thomas Pynchons Bücher werden desto besser, je älter der Mann wird. Keiner hat so viel Humor. Pynchon sieht und versteht nicht nur, wie die Menschen ticken, sondern hat einen präzisen Blick für historische Situationen. „Bleeding Edge“, sein neuer Roman, spielt in New York kurz nach dem Dotcom-Crash und kurz vor dem 11. September. Es ist eine Momentaufnahme der Welt vor dem Umschlag ins 21. Jahrhundert, in der alles schon enthalten ist, was unsere Gegenwart ausmacht: die alleinerziehende Mutter als sozialer Prototyp, Kapitalismus als Lebensform, Pop als kulturelle Hauptreferenz und das Internet als Austragungsort globaler Konflikte.
Mindestens sieben die Story tragende Figuren gibt es, und jeder Satz erzählt eine eigene kleine Geschichte. Nur so viel: Maxine Tarnow, Privatdetektivin, Mutter zweier schulpflichtiger Kinder, ist eine wunderbare Protagonistin, an deren Seite Pynchon die ebenso tolle Heidi gestellt hat, eine andere Single-Lady, die mehr Sex als Maxine hat, aber nicht ganz so smart ist, wodurch sich grandiose Dialoge entspinnen. Welche von beiden ist glücklicher? „Bleeding Edge“ ist für uns, was der „Idiot“ für die Russen von 1870 war. Unbedingt lesen! ULRICH GUTMAIR
■ Thomas Pynchon: „Bleeding Edge“. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt, Reinbek 2014, 608 Seiten, 29,95 Euro
Alltag Mittelamerikas
Der nicaraguanische Schriftsteller und ehemalige sandinistische Vizepräsident Sergio Ramírez hat eine facettenreiche Anthologie zusammengestellt mit Erzählungen aus Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica, Panama und auch der Dominikanischen Republik. Die in „Zwischen Süden und Norden“ versammelte neue Generation von Autorinnen und Autoren wie Maurice Echeverría, Carla Pravisani oder Vanessa Núñez Handal eint die Suche nach einem individuellen literarischen Ausdruck für eine widersprüchliche Wirklichkeit zwischen ländlicher Rückständigkeit und globalisierter Urbanität. Diese Welt, die von Gewalt, Willkür und Migration geprägt ist, beschreibt der Herausgeber in seinem Vorwort als „simultanen Anachronismus“: „Über die Baumreihen an den Landstraßen, auf denen Ochsenkarren ziehen, ragen Parabolantennen?“
Die Anthologie beginnt herausragend mit „Der letzte türkische Mokka“, einer doppelbödigen Erzählung des guatemaltekischen Schriftstellers Eduardo Halfon über seine Kindheit als Enkel libanesisch-jüdischer Einwanderer. Aber auch andere in „Zwischen Süd und Nord“ vertretene Erzähler überraschen mit ihren Berichten aus dem Alltag Mittelamerikas. So verbirgt sich in diesem Band viel mehr, als die abgeblätterte Holztür auf dem Cover dieses Buches vermuten lässt. EVA-CHRISTINA MEIER
■ Sergio Ramírez (Hg.): „Zwischen Süd und Nord. Neue Erzähler aus Mittelamerika.“ Unionsverlag, Zürich 2014, 256 Seiten, 19,95 Euro
Schräge Liebesversuche
„Zum Glück gibt es genug Tierärzte, die gesunde Hunde einschläfern.“ Das ist mal ein schön-schräger Einstiegssatz in einen Roman. Vorgelegt hat ihn die 34-jährige Österreicherin Nadine Kegele, von der im vergangenen Jahr bereits der Erzählband „Anna-Lieder“ erschienen ist.
Der Satz ist markant für ihr Schreiben. Er eröffnet eine – hier skurrile – Szenerie, die sich erst mit einer kleinen, reizvollen Verzögerung erschließt, er irritiert, weckt Neugier. In Zentrum des Romans steht Nora, Mitte dreißig. Ihr sehen wir beim Leben zu: ihre Liebesversuche, ihre absurd anmutende Arbeitssuche, die (queer)feministischen Diskussionen mit ihren Freundinnen –und über allem ihr Kampf mit dem Trauma des Nichtgewolltseins, die Auseinandersetzung mit einer Mutter, die den eigenen Liebesmangel weitergab. Parallel dazu erzählen eingestreute Kapitel eine zweite Biografie: Erika ist eine Generation älter als Nora, ihr Lebensdurst wurde früh erstickt.
Natürlich birgt der Stoff Schweres und Trauriges. Kegele negiert beides nicht. Sie ist empathisch, sehr nah an ihren Figuren. Aber zugleich bricht sie immer wieder den Ton: Dann zieht das poetisch Absurde in den Text ein oder das ironisch Komische. Mit traumtänzerischem Gespür wechselt Kegele zwischen den Tonlagen. Sehr schön auch, wie erst der Schluss des Romans viele Details erst ganz zu erhellen vermag und ein erzählerischer Kreis sich schließt. CAROLA EBELING
■ Nadine Kegele: „Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“. Czernin Verlag, Wien 2014, 320 Seiten, 23 Euro
Zerstörerischer Geist
Lisa Kränzler schreibt dunkle Coming-of-Age-Erzählungen, von Border-Linern, von extremen Mädchenfreundschaften, von Vergewaltigungen – und sie schreibt sie in einer dichten, krassen und präzisen Sprache.
In „Lichtfang“ führt sie ihren gefeierten Debütroman „Export A“ über eine deutsche Austauschschülerin in Kanada gewissermaßen fort. Lilith heißt jetzt ihre Protagonistin, die nach einem Jahr im „borealen Busch“ Nordamerikas zu den „Mischwäldern Süddeutschlands“ zurückkehrt. In der festgesetzten Welt ihrer kleinstädtischen Heimat soll sie das Gymnasium abschließen. Doch ihr Leben scheint von einem zerstörerischen Geist getrieben. Schon als Kind verbringen sie und ihr Jugendfreund Kurt, der später zum Koksdealer hereinreift, ihre Freizeit mit sadistischen Spielchen und nun, kurz vorm Abitur, wird sie von Selbstzweifeln zerfressen, stürzt sich in Alkoholexzesse und maltraitiert ihren magersüchtigen Körper. „Wenn man das Leben würgt, wird es strampeln, nach Luft schnappen, sich bemerkbar machen. Liliths Schlinge erpresst Lebensbeweise.“
Auf dem Gymnasium gibt es aber auch Rufus, und so wird „Lichtfang“ eine Liebesgeschichte zwischen zwei jugendlichen Außenseitern in der Enge einer schwäbischen Kleinstadt. In einer Sprache, die mit großer Schärfe durchgearbeitet ist, beschreibt Kränzler Rufus’ tiefe Gefühle für das Mädchen mit den schwarz gefärbten Haaren und der dunklen Maquillage, mit Kraft und brutaler Energie schildert sie Liliths taumelnde Welt aus Zweifel, Selbstzerstörung und den kurzen Momenten der Liebe. Doch die Beziehung hat ihre Grenzen. Während Rufus nach vorn blickt und studieren wird, schmeißt Lilith die Schule und entflieht ihrem Leben durch die Kunst. In ihrer Kunst aber, so möchte es Lisa Kränzler, die selbst bildende Künstlerin ist, ruft Lilith noch bösere Dämonen wach. SOPHIE JUNG
■ Lisa Kränzler: „Lichtfang“. Suhrkamp, Berlin 2014, 175 Seiten, 16,95 Euro
Im Taxi durch Haiti
„Die schöne Menschenliebe“ – das klingt nach Utopie. Doch in dem weisen und kritischen Roman von Lyonel Trouillot scheint auf einmal vieles möglich. Wir befinden uns auf Haiti, Thomas fährt Anaïse in das Dorf Anse-à-Fôleur. Auf der Fahrt dahin erzählt er ihr von dessen Bewohnern, von zwei grausamen Freunden, und von Leuten, die bei ihm im Taxi mitfahren.
Anaïse reist auf den Spuren ihres Vaters. Dieser verließ das Dorf, nachdem sein Elternhaus abgebrannt war. Seitdem weiß man nichts mehr über ihn, genauso wenig wie über den Brandstifter. Als wäre das Buch ein poetischer Krimi, bei dem am Ende statt eines Mörders oder eines Toten etwas anderes, viel Spannenderes steht.
Trouillot, der in Port-au-Prince als Professor arbeitet, analysiert die Nachwirkungen des grausamen Duvalier-Regimes, der Kolonialzeit, die Verachtung des Westens und das diskriminierende Geleier der gutmeinenden NGOs. Der Text ist ein politischer Essay vom Feinsten, verkleidet als Geschichte. Das wichtigste Thema aber ist etwas anderes, nämlich das, was Alexis die „Reise zum Mond der schönen Menschenliebe“ genannt hat. Das Wesentliche.
Faszinierend, wie Trouillot mit den sehr realen politischen Missständen und dem Augenzwinkern seines Erzählers wirklich Schönheit schafft. Mit seinem Buch gibt er dem Land genau das, woran es Haiti laut Amerika fehlt: den Glauben an eine Selbstständigkeit, an das Wertvolle im Eigenen – trotz aller Schrecklichkeit und Banalität. Das lässt sich übertragen auf das Individuum. Trouillot schreibt für das Wunderbare in uns. CATARINA VON WEDEMEYER
■ Lyonel Trouillot: „Die schöne Menschenliebe“. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz. Liebeskind, München 2014, 192 Seiten, 16,90 Euro
Schamgenerator
Alle zwei, selten drei Jahre legt Wilhelm Genazino einen Prosatext vor, der selten länger als 180 Seiten ist, so gut wie nie von der Grundsituation „Ein melancholischer Mann geht in der Stadt spazieren und manchmal mit einer Frau ins Bett“ abweicht und dabei fast immer durch geringe Abweichungen von der Normalität die gewöhnlichen Zumutungen des Lebens aufs Neue provoziert: Ein Fleck auf der Kleidung ist eines der Lieblingsmotive dieses großen Minimalisten, und dieser Schamgenerator wirkt auch im neuen Roman einige prosaminiatürliche Wunder, denn der Ich-Erzähler ist ein Essenskleckerer von jener Sorte, die Glucken glücklich macht.
Ein Trottel ist er jedoch nicht. Dass er seine Sehnsucht nach den Brüsten der verstorbenen Mutter beim partnerschaftlichen Sex stillt, verbirgt er geschickt vor seiner Lebensgefährtin, die den Standpunkt vertritt, eine erwachsene Liebe setze die Lösung von den Eltern voraus. Wilhelm Genazino widerlegt diese Ansicht subversiv. Eine erwachsene Liebe kann auch auf ausgewachsenen Missverständnissen beruhen, erweist sich im Verlauf der Handlung, und das ist eine kleine Sensation. Denn Genazinos fragile, zuweilen windschiefe Handlungsgerüste waren bisher vor allem dazu bestimmt, seine Ästhetik einer „Bruchbudenhaftigkeit des Schönen“ zu bestätigen. „Bei Regen im Saal“ ist ein fast schon konventioneller Roman – und eines der stärksten Bücher des Büchnerpreisträgers seit Langem. HANS-JOST WEYANDT
■ Wilhelm Genazino: „Bei Regen im Saal“. Hanser, München 2014, 160 Seiten, 17,90 Euro
Parallele Frauenpower
Zwei Frauen beschließen zeitgleich, ihr Leben zu ändern, die eine in Deutschland, die andere in den USA. Beide beginnen ihr neues Leben mit einer Abtreibung und beide befreien sich auf ihre Weise von ihren Männern, die eine, weil ihr Mann ihr zu reaktionär ist, die andere, weil ihr sein naiv-revolutionäres Gehabe auf den Keks geht.
Shirley verlässt Larry, zieht mit ihrem Sohn Pete in einen Wohnwagen, und statt in der Schweinefabrik irgendwo in Iowa weiter zu arbeiten, verkauft sie Schönheitsprodukte an Frauen, die wie sie von einem besseren Leben träumen. Elisabeth geht zur Kur nach einem körperlichen und seelischen Absturz und lernt dort einen seltsamen Liebhaber kennen. Auf einer Flughafentoilette treffen die beiden Frauen kurz aufeinander und von da an verweben sich in „Schweinesystem“ die beiden Schicksale.
RAF-Sympathisantentum und Black-Panther-Bewegung, ein bisschen Revolution in der deutschen Kleinstadt und Gewerkschaftsarbeit in einem menschen- und tierverachtenden Fleischbetrieb, sexuelle Befreiung der Frauen und kleine lesbische Abenteuer mit der besten Freundin: Christine Koschmieder lässt kein Thema der 70er Jahre aus.
Allerdings kommt der Roman sehr verschachtelt daher. Perspektiven- und Erzählerwechsel zwingen zum Zurückblättern, Zusammenhänge ergeben sich oft erst Seiten später. Der Liebhaber Elisabeths erweist sich später als Stasi-IM, aber warum macht er sich an die Ehefrau eines eher harmlosen Sympathisanten des Deutschen Herbstes heran?
Schön ist die Erkenntnis, dass Shirleys Afrolook die amerikanischen Freundinnen an Angela Davis erinnert, Elisabeth aber an die Frisur von Paul Breitner denken muss. ELKE ECKERT
■ Christine Koschmieder:„Schweinesystem“. Blumenbar, Berlin 2014, 320 Seiten, 20 Euro
Dezenter Witz
„Spirit-in-the-Woods“, so lautet der programmatische Name eines Sommercamps in Neuengland, in dem Jugendliche aus New York und Massachusetts einige Wochen lang kreativ sein dürfen, musizieren, malen, Theater spielen, tanzen. Dort treffen im Jahr 1974 sechs junge talentierte Amerikaner aufeinander, die sich – halb im Bewusstsein ihrer Außergewöhnlichkeit, halb im Spaß – fortan „Die Interessanten“ nennen. Die US-amerikanische Schriftstellerin Meg Wolitzer erzählt von den verschränkten Schicksalen dieser Freunde um die handfeste Julie Jacobson, die von der Gruppe insbesondere für ihren abgründigen Humor geschätzt wird.
Mit dezentem Witz begegnet auch Wolitzer ihren Figuren, die sie psychologisch präzise zeichnet, ohne sie vorzuführen, und die selbst peinlichen Alltagssituationen ihre Würde lässt. Sogar der Neid, den Julie Jacobson, die nach glücklosen Versuchen in der Schauspielerei als Psychotherapeutin arbeitet, auf einen der Freunde, den erfolgreichen Trickfilmzeichner Ethan Figman, verspürt, erscheint als legitimes Gefühl. Wolitzer legt die Werdegänge der „Interessanten“ als Gesellschaftspanorama der USA im ausgehenden 20. Jahrhundert an, in dem die politischen und sozialen Veränderungen – etwa Aids im New York der frühen Achtziger – das Geschehen ständig begleiten, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.TIM CASPAR BOEHME
■ Meg Wolitzer: „Die Interessanten“. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont, Köln 2014, 608 Seiten, 22,90 Euro
Mafiöse Familien
Bereits mit seinem ersten Roman „Abgesang des Königs“ (2004) stieg Yuri Herrera zu den wichtigen Protagonisten der Gegenwartsliteratur Mexikos auf. „Der König, die Sonne, der Tod“ versammelt nun jenes Debüt und zwei weitere Kurzromane aus der Feder des Autors, die sich allesamt mit den Problemen des Landes befassen: den Drogenkartellen, der illegalen Einwanderung in die USA, der stets lauernden Gewalt. So schildert Herrera den Niedergang eines Drogenbarons, die Suche nach einem auf dem Weg zur Nordgrenze verschollenen Bruder sowie den schwelenden Streit zwischen zwei mafiösen Familien vor dem Hintergrund einer tödlichen, durch Mücken übertragenen Epidemie.
Die Geschichten werden aus der Sicht von Einzelgängern erzählt, die, oft ohne eine Alternative zu haben, unaufhaltsam in die sie umgebenden Systeme eindringen, um von ihnen instrumentalisiert zu werden. Während die Protagonisten noch Lobo, Makina oder Alfaki heißen, bleiben die weiteren Figuren der Geschichten namenlos und werden schlicht nach ihrer Funktion im Räderwerk der Unterwelt benannt: der König, der Kassierer, die Unregierbare. Mit dem Kunstgriff veranschaulicht Herrera das soziale Geflecht der Gewalt und verankert seine Erzählungen zugleich in einer schwebenden Zeitlosigkeit, in der sich sowohl Mexikos brisante Gegenwart als auch dessen vergangene Mythen treffen. ELISE GRATON
■ Yuri Herrera: „Der König, die Sonne, der Tod“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Fischer, Frankfurt a. M. 2014, 349 Seiten, 19,99 Euro
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