: Geschichtsstunde im Kreisverkehr
Fünf Jahre nach Beginn der Arbeiten ist der Berliner Mauerweg fertig. Zu Fuß oder mit dem Rad kann man ab sofort die einstige Enklave Westberlins umrunden. 160 Kilometer misst die geschichtsträchtige Strecke, die nur an einer Stelle unterbrochen ist
Pünktlich zur Fertigstellung des Berliner Mauerwegs gibt es jetzt auch im Internet die Möglichkeit, die Strecke zu erkunden. Unter www. berlin.de/mauergedenken kann man einen detaillierten Übersichtsplan, einzelne Etappen und Erläuterungen zu den Sehenswürdigkeiten einsehen.
Alle, die den ehemaligen Grenzverlauf lieber live und in Farbe erleben möchten, können ihn entweder auf eigene Faust erkunden oder an einer Fahrradtour teilnehmen. Neben den von den Grünen organisierten „Mauerstreifzügen“ bietet auch die Gedenkstätte Berliner Mauer geführte Touren an.
Die genauen Termine sowie weitere Informationen sind unter www.gruene-fraktion-berlin.de und unter www.berliner-mauer-gedenkstaette.de einsehbar.
VON NANA GERRITZEN
Wenn man mit dem Fahrrad von der Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße durch den Mauerpark in Richtung Bornholmer Straße fährt, kommt es einem nicht gerade vor, als befinde man sich in einem Freiluftmuseum. In dem von Kirschbäumen gesäumten Kolonnenweg zwischen dem Schwedter Steg und dem S-Bahnhof Bornholmer Straße sieht man Mütter und Väter mit Buggys, Spaziergänger mit Hunden und Fahrradfahrer, die von der Arbeit nach Hause radeln.
Einer von ihnen ist Sandor Leko. Der gebürtige Ungar wohnt seit 1986 in Pankow und kann sich noch an die Zeit vor der Wende erinnern: „Mit der Mauer hatte ich nicht viel zu tun, ich habe sie nur aus der S-Bahn gesehen“, so der 55-Jährige. Auf dem Weg zur Arbeit fuhr er jeden Tag durch den S-Bahnhof Bornholmer Straße, der damals im Sperrgebiet lag und somit ein Geisterbahnhof war. „Der Zug fuhr an dieser Stelle immer extrem schnell“, erinnert sich Leko. Heute fährt der Buchhalter jeden Tag mit dem Fahrrad über den ehemaligen Todesstreifen. Die Schilder, die seit kurzem den Berliner Mauerweg kennzeichnen, hat er noch gar nicht bemerkt.
Gestern gab Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) die „wesentliche Fertigstellung“ des sogenannten Mauerwegs bekannt. Der ehemalige Grenzverlauf ist künftig als 160 Kilometer langer Wanderweg für interessierte Radfahrer und Spaziergänger nachvollziehbar. „Gerade für jüngere Generationen, die die deutsche Teilung nicht mehr selbst miterlebt haben, ist es wichtig, die frühere Grenze praktisch erlaufen und erfahren zu können“, so Junge-Reyer. Nach den abschließenden Bauarbeiten am letzten Abschnitt von 15 Kilometern Länge besteht nun ein geschlossener Weg, der rundum begehbar, befahrbar und größtenteils auch barrierefrei ist. Zur Verbesserung der Nutzbarkeit sind noch weitere Baumaßnahmen vorgesehen. Die Finanzierung des 4,4 Millionen Euro teuren Projekts erfolgte zu 10 Prozent aus dem Landeshaushalt und zu 90 Prozent aus EU-Mitteln.
Bereits im Mai 2001 hatten die Grünen im Abgeordnetenhaus den Senat aufgefordert, einen Rad- und Wanderweg entlang der ehemaligen Grenze zu kennzeichnen. „Bis zur Zustimmung mussten wir allerdings ganz schön kämpfen“, erinnert sich Michael Cramer. Cramer, inzwischen EU-Parlamentsmitglied, hatte im Mai 2001 als verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus den Antrag eingereicht und war damit zunächst auf viel Skepsis gestoßen. Um die Zweifler zu überzeugen, organisierte er sogenannte Mauerstreifzüge: Das Angebot, unter historisch versierter Führung an begleiteten Radtouren teilzunehmen, nutzten schon im ersten Jahr mehr als 1.000 Interessierte. „Da war ein riesiger Informationsbedarf, das hat gezeigt, dass man Geschichte nicht einfach ausradieren kann“, so Cramer. Nach dem Erfolg der Mauerstreifzüge wurde die „Initiative Mauerweg“ im Herbst 2001 vom Abgeordnetenhaus beschlossen. Schon 2002 wurde mit der Umsetzung begonnen. Seitdem wurden neben der Instandsetzung der noch vorhandenen Grenzwege insgesamt 15 Kilometer neue Strecken angelegt. Außerdem wurden 600 Schilder zur Kennzeichnung, 100 Übersichtspläne und 17 Informationstafeln an Sehenswürdigkeiten entlang dem Mauerweg installiert.
Mit der Umsetzung und Fertigstellung ist Michael Cramer „sehr zufrieden“. Das einzige Problem sieht er darin, dass bisher eine Untertunnelung der Bahngleise in Lichtenrade fehlt, die jetzt die einzige Unterbrechung des 160 Kilometer langen Rad- und Wanderwegs sind. „Hier gilt es, schnell zu handeln“, fordert er.
„Der Mauerweg ist eine Verbindung von sanftem und Stadttourismus“, sagt Cramer. „Außerdem ist das nun gelungene Projekt Vorbild für überregionale und sogar internationale ähnliche Projekte.“ So wäre die Idee des „Iron Curtain Trail“ – eines fast 7.000 Kilometer langen Rad- und Wanderweges entlang des früheren Eisernen Vorhangs – ohne den Berliner Mauerweg vermutlich nie entstanden.
„Ich kenne den Mauerweg schon länger“, erzählt Sterre Lindhout, während sie vom Schwedter Steg aus über die S-Bahn-Gleise blickt. Die 22-jährige Niederländerin hat schon vor zwei Jahren ein Semester in Berlin verbracht und absolviert gerade ein Praktikum in der Hauptstadt. Ihrem Vater, der für ein paar Tage zu Besuch ist, bietet sie eine Stadtführung vom Rad aus. Vom Schwedter Steg aus zeigt sie ihm, wo früher einmal die Berliner Mauer stand. „Ich bin hier schon öfter langgefahren und möchte meinem Vater so ein Stück deutsche Geschichte zeigen“, sagt Lindhout. Dass der ehemalige Grenzverlauf jetzt komplett befahrbar ist, findet sie gut – „auch wenn ich nicht den ganzen Weg auf einmal fahren will.“
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