: Nicht wild, aber wichtig
THÜRINGEN Die Entscheidung der SPD in Erfurt ist, 25 Jahre nach dem Mauerfall, der Beginn des Endes der Selbstfesselung der politischen Linken
■ lebt in Berlin und ist Autor im Parlamentsbüro der taz. Er befasst sich vor allem mit Parteien und Geschichtspolitik, darunter die Aufarbeitung des deutschen Terrorismus.
Sollte Bodo Ramelow wirklich Ministerpräsident in Thüringen werden, bieten sich zwei Deutungen an – eine kleine, detaillierte und eine großformatige.
Die kleinteilige geht so: Faktisch sind die Unterschiede zwischen CDU, SPD und Linkspartei in Thüringen denkbar gering geworden. Ob bei der Energiewende oder dem Kampf gegen Nazis, in der Schulpolitik oder bei den Finanzen – fundamentale Differenzen sind nicht erkennbar. Die CDU ist unter Christine Lieberknecht liberaler, offener, auch wirrer geworden und jedenfalls nicht mehr der autokratische Verein, der sie unter Bernhard Vogel und Dieter Althaus war.
Sensation: SPD lernt dazu
Auf der anderen Seite ist die Linkspartei bis in ihre Mikrofasern hinein sozialdemokratisch eingefärbt. Hinzu kommt die Schuldenbremse, die die Spielräume für ganz Neues in der Landespolitik ohnehin radikal einschränkt. Aber nicht die Schuldenbremse hat Ramelow und die Linkspartei zu Realos geformt. Es war nicht äußerer Zwang, sondern innere Überzeugung.
Rot-Rot-Grün wird also kein wildes Experiment. Ramelow ist kein verkleideter Sozialromantiker, sondern ein pragmatischer Profi, für den nicht das Grundsatzprogramm der Linkspartei zählt, sondern die Prinzipien von Good Governance. Gewiss werden nun schreckliche Prophezeiungen ausgestoßen und der Marsch der Linkspartei an die Macht in dunklen Farben gemalt. Hat sich Wolf Biermann eigentlich schon zu Wort gemeldet?
Doch schon ein paar Wochen nach der Wahl von Ramelow zum Ministerpräsidenten werden auch die Aufgeregten merken, dass die Busse in Erfurt noch immer fahren. Und in Berlin wird das Interesse für Thüringen wieder auf den Stand vor den Wahlen sinken: also auf Null.
Die zweite Deutung geht so: Rot-Rot-Grün, bisher in Hessen und im Saarland stets tragisch gescheitert, kann eine Tiefenwirkung entfalten, die die bundesrepublikanische Koalitionsdramaturgie verändern wird. Denn die SPD hat in Erfurt eine historische Entscheidung getroffen. Sie gibt die törichte Doktrin auf, stets die führende linke Volkspartei zu sein.
Damit öffnet sie endlich die Tür für ein langfristiges Mitte-links-Bündnis und befreit sich von dem Zwang zur Großen Koalition. Die Entscheidung der SPD in Erfurt ist, 25 Jahre nach dem Mauerfall, somit der Sieg der Gegenwart über die lähmende Geschichte, der Beginn des Endes der Selbstfesselung der politischen Linken in Deutschland.
Falls Rot-Rot-Grün in Erfurt sogar mit nur einer Stimme Mehrheit stabil regieren kann, wird dies viele der noch immer tiefsitzenden Vorurteile gegenüber der Linkspartei zerstören. Damit öffnen sich automatisch neue Spielräume, die jetzt noch verbarrikadiert scheinen.
In der Ära des Postpolitischen
Was stimmt nun: Der nüchterne Blick aus der Provinz oder der hoffnungsschwangere aus Berlin? Wahrscheinlich der erstgenannte Blick. Wir leben in einer Ära des Postpolitischen, in dem das Meiste pragmatisch heruntergedimmt ist. Wer sich kurz vor Augen führt, was die Linkspartei in Berlin und Brandenburg in rot-roten Koalitionen bewirkt hat, weiß, wie begrenzt die bundespolitische Strahlkraft solcher Regierungsbeteiligungen ist.
Die SPD hat sich in Erfurt auch weniger für Ramelow entschieden als gegen die Rolle, sich zum dritten Mal als Mehrheitsbeschaffer der CDU zu verdingen. Sehenden Auges ins politische Nichts zu marschieren wäre der masochistischen Lernunfähigkeit zu viel gewesen.
Diese Koalition ist ein Versuch wert. Und zwar nicht so sehr, weil Thüringen nun von einem Feuerwerk von Ideen erleuchtet werden wird und ein mitreißender Aufbruch ins Neue bevorsteht. Sondern weil die CDU nach 25 Jahren an der Regierung schlicht verbraucht ist. Vor allem Dieter Althaus’ Plan, das Land als Niedriglohngebiet zu verramschen, war fatal. Die CDU trägt die politische Verantwortung für das Agieren des Verfassungsschutzes in dem NSU-Skandal und damit für eine Verstrickung von staatlichen Organen und Terrorismus, die aus der Fantasie von Anhängern von Verschwörungsthesen stammen könnte.
CDU verantwortlich für NSU
Dass Rot-Rot-Grün nun die V-Leute im Nazi-Umfeld abschalten will, ist richtig und überfällig. Vor dem Abgrund des NSU-Skandals erscheinen die mannigfachen Affären und Personalquerelen der Regierung Lieberknecht fast als Marginalien. Sie sind mehr als alles andere ein weiteres Signal, dass 25 Jahre genug sind. Für die Demokratie ist es schlicht schädlich, wenn eine ausgelaugte, machtsatte Partei ein Abonnement auf die Regierung hat – nur weil die Opposition sich stetig selbst hemmt. Und wenn Rot-Rot-Grün scheitert?
Die Grünen werden in drei Tagen Ja zu Rot-Rot-Grün sagen. Auch die SPD-Basis wird Rot-Rot-Grün durchwinken. Das Entscheidende passiert, wenn im Landtag in Erfurt die Wahl von Bodo Ramelow ansteht. Für das demokratische Prozedere wäre es gut zu wissen, was geschieht, wenn die rot-rot-grüne Regierungsbildung scheitert. Halten es sich die Grünen und die SPD in diesem Fall offen, den Staatsnotstand auszurufen und doch Mehrheitsbeschaffer für eine von der CDU geführte Regierung zu werden?
Diese Frage ist keine Nebensächlichkeit. Falls dies möglich ist, dürfte es für zögernde Abgeordnete weit verlockender sein, Ramelow nicht zu wählen. So riskieren sie ihr Mandat nicht. Und falls sie den Grünen und der SPD angehören, katapultieren sie ihre Fraktionen nicht in die Opposition.
Dieses Verfahren ist formal legitim – aber es ist nicht fair. Die Entscheidung für Rot-Rot-Grün ist in einem transparenten Prozess gefallen. Sie würde dann in einer geheimem Abstimmung gekippt mit dem Kalkül, so einer anderen Koalition an die Macht zu verhelfen.
Vor allem auf die Grünen würde im Falle einer CDU-SPD-Grünen-Koalition der Verdacht fallen, von Beginn an ein doppelbödiges Spiel betrieben zu haben: Stets forderten sie entschlossen die Abwahl der CDU, hätten aber Plan B im Hinterkopf gehabt. Redlich wäre es daher nur, bei einem Misslingen von Rot-Rot-Grün Neuwahlen zu machen. STEFAN REINECKE
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