: Deutsch-deutsche Tragödien
GESCHICHTE Die innerdeutsche Grenze zog sich großteils an Niedersachsen entlang. Den damit verbundenen Schicksalen und Aspekten widmet sich jetzt das Historische Museum Hannover
Die innerdeutsche Grenze mit ihren Tretminen, Beobachtungstürmen und Selbstschussanlagen war kein Ort, der erfreuliche Geschichten hätte hervorbringen können. Aber Geschichten, die gut ausgegangen sind, die gibt es. Eine davon spielte im Dorf Böseckendorf in Thüringen. Die Felder der Bauern lagen im Schutzstreifen und durften nur noch unter Aufsicht der Grenzpolizei bestellt werden. Also bereiteten die Bauernfamilien in geheimen Treffen über einen längeren Zeitraum eine kollektive Flucht ins niedersächsische Immingerode vor.
Am Abend des 2. Oktober 1961 flohen dann 53 DorfbewohnerInnen gemeinsam über die Grenze. Die Gruppe hatte lediglich einen Pferdewagen dabei, auf dem Alte, Kinder und eine Hochschwangere saßen – umgeben von einem Wall aus Matratzen, um etwaige Kugeln provisorisch abzufangen. Die Flucht wurde zur größten Gruppenflucht über die innerdeutsche Grenze.
Erfahren kann man von dieser Geschichte in der Ausstellung „Grenzerfahrungen“, die derzeit im Historischen Museum Hannover zu sehen ist. In 26 Stationen bewegen sich die Besucher entlang des niedersächsischen Abschnitts der innerdeutschen Grenze vom Eichsfeld im Süden bis an die Elbe. Die Idee ist, die jeweilige Station durch Geschichten oder Aspekte zu profilieren und so das Phänomen der innerdeutschen Grenze greifbar zu machen.
Anhand von Fotos, Plakaten, Originalexponaten und Texttafeln wird beispielsweise erzählt von der grünen Grenze im Harz, die zwei Schüler aus der 10. Klasse überqueren wollten, nachdem sie Ärger mit ihren Eltern gehabt hatten – die beiden wollten einfach mal abhauen und hatten sich nicht klar gemacht, dass ihre Aktion einer „Republikflucht“ gleichkam. Der eine wurde erschossen, der andere inhaftiert.
Eine weitere Station beleuchtet die Arbeit der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen im niedersächsischen Salzgitter. Die 1961 von der Bundesrepublik gegründete Behörde registrierte mehr als 40.000 in der DDR verübte Gewaltakte, dazu zählten Verurteilungen, Verhaftungen und Misshandlungen.
An dieser Station wie an den meisten anderen sind es nicht die Einzelschicksale, die im Fokus stehen: Die Ausstellung berichtet mehr, als dass sie erzählt. Das bewahrt sie vor Kitsch, gibt ihr aber andererseits die Anmutung einer Geschichtsstunde.
Tatsächlich wurde die Schau vorbereitet durch ein mehrjähriges Forschungsprojekt mit Studierenden der Leibniz Universität Hannover. Zur Ausstellung erschienen ist ein 264 Seiten starkes Buch, das Studierende, Professoren und Mitarbeiter des Historischen Museums geschrieben haben. Zahlreiche Fußnoten treffen auf eine umfangreiche Materialsammlung. Für Interessierte wird das Buch noch wertvoller sein als die Ausstellung.
KLAUS IRLER
bis 14. 8., Hannover, Historisches Museum
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