: Gute Männer, dringend gesucht
155.000 Personen wanderten 2006 aus Deutschland aus – 7 Prozent mehr als im Vorjahr. Bevorzugte Ziele sind die USA und die Schweiz, die um die 13.000 deutsche Einwanderer verzeichnen. Beliebt ist jedoch auch Polen, 9.658 Deutsche zog es 2004 in das Nachbarland. Aber auch Österreich, Großbritannien, Frankreich und Spanien gehören zu den bevorzugten Zielen der Deutschen. Eine große Jobbörse für Arbeiten in Europa bietet die EU-Kommission: europa.eu.int/eures/home.jsp?lang=de, spezielle Arbeitsangebote für Skandinavien gibt es unter www.skandinavien.de.
AUS BERLIN JÖRG ALBINSKY
Ingenieure schwafeln nicht. Zumindest nicht so viel. „Do you have specific facilities?“, fragt Herr Olsen hinter dem Bürotisch und guckt erwartungsvoll auf den Deutschen vor ihm. Wolfgang guckt zurück. Er steht da, breitschultrig, kräftig, die Brille in die Stirn geschoben. Ein freundlicher, zurückhaltender Mann, der seinem Gegenüber aufmerksam in die Augen schaut, aber beim Sprechen irritierend leise redet. Herr Olsen muss sich nach vorn beugen, um ihn zu verstehen. Facilities? Wolfgang, der seinen Namen lieber nicht gedruckt sehen will, lächelt den Dänen an und sagt auf Deutsch, dass er kein Englisch spricht. Dann drückt er ihm verbindlich die Hand, als wäre das Bewerbungsgespräch hervorragend gelaufen, und geht zum nächsten Stand. So einfach ist das.
Am zweiten Tisch läuft es besser. Die Frau von einer Baufirma aus Süddänemark antwortet deutsch, als der 54-Jährige sich vorstellt. Bauingenieure suchen sie schon, sagt sie und blättert zögerlich in Wolfgangs Bewerbungsmappe. Ein knappes Jahr ist er jetzt arbeitslos, nachdem die kleine Brandenburger Firma zuletzt immer weniger Aufträge hatte. Fassadenrekonstruktion, das war nach der Wende ein einträgliches Geschäft. Aber die letzten Jahre mussten sie mit Kleinreparaturen über die Runden kommen. Das lohnte die Anfahrt nicht. Er wurde entlassen. 55 Bewerbungen hat er seither verschickt, drei Angebote von der Arbeitsagentur bekommen und verworfen. Die Monate bis Hartz IV schmelzen weiter dahin. Man kann nicht mehr in Jahren denken, nennt das Wolfgang. Nur noch in Quartalen.
„Frag mal da drüben“, sagt die Frau von der Baufirma zu ihm. Sie duzt Wolfgang, wie das die Dänen eben so machen, und weist ein paar Tische weiter, wo zwei dänische Herren stehen und sich auf dem Tisch schon ein kleiner Haufen Bewerbungsmappen stapelt.
Es ist Jobmesse in der Dänischen Botschaft in Berlin. Eine klare Sache: Den Dänen gehen die Fachkräfte aus, die Deutschen haben zu viele Arbeitslose. Also bringt man sie zusammen. Der Wirtschaftsverbund Business Kolding aus Süddänemark, der diese Messe organisiert, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Erst karrten sie im Januar mit Hilfe der Arbeitsagenturen zweieinhalbtausend Arbeitslose in Bussen nach Kolding. Mehr als 100 Deutsche unterschrieben Arbeitsverträge – ein überwältigender Erfolg.
Doch in der Zwischenzeit hat sich der Wind in Deutschland gedreht. Das Land schöpft wieder Hoffnung, die Wirtschaft prosperiert und mit ihr die Aussicht, hier Arbeit zu finden. Da kriegt man die Busse nicht mehr so schnell voll. Und so stehen nun 14 Unternehmen im Entree der Botschaft am Tiergarten. 14 Tische voller Prospekte, dahinter Aufsteller mit Firmenlogos und zwischen den wenigen Frauen vor allem Herren in Anzügen. Etwa 160 Ingenieure kommen heute hierher, das Gros von ihnen sind Ostdeutsche.
Auf der Jobbörse scheitern nicht wenige von ihnen an der englischen Sprache. Morten Stenderup hat deshalb für sich eine Erfolgsquote festgelegt. „Wir erwarten doch gar nicht, dass wir hier jemanden vom Fleck weg einstellen können“, sagt der Personalchef von Semco, einer Planungs- und Baufirma in der Energiebranche. „Aber ein guter Mann, ein wirklich guter Mann, das wäre ein Erfolg. Und ehrlich, es sieht gar nicht so schlecht aus.“ Stenderup hat nach vier Stunden zwanzig Lebensläufe auf seinem Tisch.
Besonders wählerisch ist er allerdings nicht. Die Firma projektiert und baut Ölplattformen und Offshore-Parks. Die Auftragsbücher sind voll, doch der Personalmangel verhagelt kräftig die Bilanz. Erst jüngst mussten sie ein Projekt ablehnen. Die Suche nach Arbeitskräften ist zum volkswirtschaftlichen Problem gewachsen.
Und nun steht Stenderup in Berlins Mitte und muss für dringend benötigten Nachschub sorgen. Mit dem Wirtschaftsförderverband Business Kolding im Rücken soll den potenziellen Mitarbeitern der Einstieg erleichtert werden, bei Wohnungssuche, Steuernummer, Krankenkasse, Kindergarten.
„Leute“, sagt der flachsblonde Däne, „sind unsere wichtigste Ressource. Das ist nicht nur so ein Spruch, wissen Sie. Wo ich herkomme, aus Esbjerg, sind nur 2 Prozent arbeitslos. Da finden Sie mal gut ausgebildetes Personal.“ Ein Mann hat diesen letzten Satz beim Vorbeigehen aufgeschnappt und schaut Stenderup für einen kurzen Moment von hinten an, den Mund leicht geöffnet, baff. Dann geht er kopfschüttelnd weiter.
Es ist Nachmittag. Ein Regenschauer bläst Wasser über die Fensterscheiben der Botschaft. Auf einer Bank zwischen den Aufstellern sitzt Monique Gottschalk und durchblättert ein Infoheft. „Ich habe es satt“, sagt die 27-Jährige. „Die Hartz-IV-Empfänger, die Rechtsradikalen, die Alkoholiker, die ganze Mentalität der Leute. Ich will nur noch weg.“ Weg aus Rathenow, weg aus Brandenburg, weg aus Deutschland. Sie sagt das ernst und entschlossen wie jemand in der Visa-Schlange vor der deutschen Botschaft in Kiew. Die Wirtschaftsinformatikerin im achten Semester will nicht mehr auf Urlaub verzichten, weil sie im Kaufmarkt jobben muss, um das Studium zu finanzieren. Der Kindergarten, in dem sie manchmal arbeitet, kommt ihr wie eine Verwahranstalt vor. Und wenn ihr ein Arbeitgeber rät, das Piercing an der Oberlippe besser rauszunehmen, dreht sie sich mittlerweile auf dem Absatz rum. „Warum halten wir das alles aus?“, sagt Gottschalk und streicht sich die schwarzen Locken aus dem Gesicht.
Dänemark ist mehr als nur eine Möglichkeit. Es ist eine Projektionsfläche, eine Verheißung einer Welt, die all das bietet, was Ucker- oder Altmark längst verloren haben. Etwas, das, da ist sich Monique Gottschalk ganz sicher, nicht mehr wiederkommen wird. „Mein Freund arbeitet für ein Minimum an Geld 140 Kilometer weit von Rathenow entfernt. Wenn alles klappt, ziehen wir in Dänemark zusammen. Das muss ja nach sieben Jahren mal möglich sein.“
Und dann steht sie auf und geht zum Stand der Agentur für Arbeit, wo über Recht und Kündigungsfristen informiert wird. Gleich daneben sitzen Mitarbeiter der Dänischen Botschaft und klären den Rest.
„So müssen sich die Polen fühlen“, sagt Petra in der Kantine der Botschaft und rührt ihren Kaffee um. Die Mittvierzigerin hat ein gewinnendes Lachen. „Ich? Nein“, sagt sie, „ich bin selbstständig. Gerd sucht Arbeit, ich bin nur mit. Dem läuft die Zeit weg. Fünf Monate arbeitslos, das ist für so’n Mann viel zu lange. Sonst kippt das nachher.“ Und davor, sie runzelt die Stirn, Gott bewahre!
Von Zehdenick sind sie angereist. Gerd hat Termine gemacht, im Januar schon, auf der Messe in Kolding. Damals drängte sich der Maschinenbauingenieur mit Friseuren, Maurern und Klempnern um die Stände wie Sechstklässler um eine Losbude. Diesmal muss was bei rumkommen. Die Welt ist eine Rechnung von Soll und Haben. Geschenkt kriegt ohnehin keiner was. Also machen wir das Beste draus.
„Wären wir nicht so alt und gäbe es Gerds Mutter nicht, wir wären längst weg“, sagt Petra. „Schweiz, Dänemark, ganz egal. Gerd ist 50, da ist hier nichts mehr zu holen.“ Seit der Wende hat die gelernte Schneiderin einen Schreibwarenladen. Weil der nicht genug einbringt, hat sie parallel einen Fahrdienst aufgebaut, während ihr Mann in der ganzen Bundesrepublik unterwegs war. Und nun ist er entlassen. Einfach so. „Sie glauben doch nicht, dass in Deutschland bald jede Menge Ingenieure gebraucht werden. Also was soll’s. Das soziale Umfeld ist eh weggeschmolzen. Der ganze Freundeskreis lebt verstreut. Und den Laden kann ich auch von Dänemark aus leiten.“ Sie rückt ihr schwarzes Jackett zurecht, und obwohl kein Anlass besteht, lacht sie laut auf. Draußen regnet es immer noch.
„Im Ausland? Nein, nur in Brandenburg habe ich gearbeitet“, sagt Wolfgang mit leiser Stimme, nachdem er alle Tische abgeklappert hat und nun ebenfalls in der Kantine sitzt. Aber einen Job in Kolding kann er sich vorstellen. Sein Sohn lernt Koch in Süddeutschland, Freunde sind wegen der Arbeit nach Norwegen gegangen. Das Weggehen ist allgegenwärtig. Nun ist er an der Reihe.
„In der Zeitung, so ist mein Eindruck, werden nur Hausmeister gesucht, auf 400-Euro-Basis“, sagt Wolfgang. „Wenn du Arbeit willst und nicht im Mediamarkt Radios verkaufen, musst du weggehen.“ Am Tisch Nummer acht hat er eine Bewerbungsmappe abgeben können. Das ist zwar keine Firma, sondern auch nur ein Jobvermittler. Aber die wollen sich melden, sobald sie was haben. Wolfgang steht auf und schnappt sich seinen blassroten Regenschirm. „Dann lerne ich jetzt eben auch noch Englisch“, sagt der Ingenieur und ist dabei kaum noch hörbar. „Damit ich mir dann nicht sagen muss, dass es daran gelegen hat“, fügt er hinzu und beginnt zu lächeln. Erst ein wenig säuerlich, dann siegt die Ironie.
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