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Respektlose Wanderflegel und Seppel im Kiez

Jugendkultur Buch über die „Wilden Cliquen Berlins“ spiegelt Außendarstellung der Halbstarken wider

Bei den Cliquen spielte die antifaschistische Arbeit zunehmend eine größere Rolle

Reißerische Artikel über jugendliche Vandalen sind in den Berliner Boulevardmedien allgegenwärtig. Doch diese Debatten sind nicht neu. Der Berliner Historiker Jonas Kleindienst hat kürzlich im Peter Lang Verlag in der Reihe „Zivilisationen und Geschichte“ ein Buch herausgegeben, das die Geschichte und den öffentlichen Diskurs um die „Wilden Cliquen Berlins“ analysiert. So nannten sich Gruppen von meist männlichen Jugendlichen aus der Arbeiterklasse, die seit Beginn des Ersten Weltkriegs die bürgerlich geprägte Jugendbewegung kopierten.

„Jeder von uns hat schon oft in Berlin und den Umgegenden größerer Städte diese wilden Cliquen gesehen, die in ihrem Äußeren auffällig geschmückten Wandervögeln ähnlich sehen, im Volksmund sind sie auch unter dem Namen Wanderflegel oder Seppel bekannt“, zitiert Kleindienst einen Bericht aus dem Jahr 1931.

Die Liste der Vorwürfe gegen die renitenten Jugendlichen ist lang: Sie kleiden sich auffällig, lachen und musizieren laut in der Öffentlichkeit und lassen es älteren Menschen gegenüber an Respekt fehlen. Im sozialdemokratischen Vorwärts kam noch der Verwurf der Naturzerstörer dazu, weil der Chronist beobachtet haben will, wie drei Halbwüchsige „von jedem dritten Baum mit ihren Spazierstöcken die Kronen der tiefhängenden Zweige aus lauter Übermut“ abschlugen. Sehr erfreut zeigte sich der Beobachter, dass ein Aktivbürger den Jugendlichen zeigte, „was eine Harke ist, und wacker zuschlägt“.

Politische Organisierungsversuche, wie der KPD-nahe Rote Wander-Ring oder der autonome Freie Wanderring scheiterten wegen der Repression und der Unlust vieler Jugendlicher, sich in feste Strukturen zu begeben. Der Leitartikel der ersten Ausgabe des Roten Wanderers aus dem Jahr 1923 beginnt mit der Ansprache: „Verwahrloste Jugend! Lausejungen! Zuhälter! Strolche! Diebe! Plünderer!“

Bei den meist kiezbezogenen Cliquen spielte die antifaschistische Arbeit zunehmend eine größere Rolle. Richtete sich der oft auch handgreifliche Protest zunächst gegen die den Deutschnationalen nahestehende Bismarckjugend, standen schon ab 1925 Auseinandersetzungen mit den Verbänden der NSDAP im Vordergrund. „Wenn wir Nazis sehen, gibt es Kleinholz“, riefen auch unpolitische Cliquen.

Der Kampf gegen die Cliquen wurde bald zu einer zentralen Parole der NSDAP. Ein kleiner Teil der ehemaligen Anführer wechselte das Lager und ging zur SA. Der Großteil habe jedoch das gleiche Schicksal erfahren wie die Kommunisten und sei mehr denn je verfolgt worden, schreibt Kleindienst. Der Kriminalist Justus Erhardt, der sich in der Weimarer Zeit als scharfer Gegner des Cliquenwesens hervorgetan hatte, schrieb 1934 zufrieden, dass „durch ordnungspolizeiliche Unternehmungen (…) die berüchtigten wilden Cliquen (….) zu einem großen Teil gesprengt worden“ seien. Damit lag er allerdings falsch. Gruppen wie die Edelweißpiraten sahen sich in den letzten Kriegsmonaten bei ihren Widerstand gegen das NS-Regime in der Tradition der Wilden Cliquen. Peter Nowak

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