piwik no script img

„Überraschend gute Pianisten“

FESTIVALS Frank Siebert hat das Programm des Schleswig-Holstein Musikfestivals konzipiert, das diesmal die Türkei zum Schwerpunkt hat. Dass sich dort auch hervorragende Klassik-Ausübende fanden, hat den Chefdramaturgen anfangs selbst überrascht

Frank Siebert

■ 50, Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker, ist seit 1997 beim Schleswig-Holstein Musikfestival, seit 2010 als dessen Chefdramaturg.

taz: Herr Siebert, wann ist eine Musik „typisch türkisch“?

Frank Siebert: Schwer zu sagen. Denn erstens ist eine Musiknation ohnehin immer vielfältig und lässt sich nicht auf ein, zwei Alleinstellungsmerkmale festlegen. Andererseits umfasst die Türkei 40 bis 50 verschiedene ethnische Gruppen, die ihre je eigene Musik haben. Darunter fällt Weltmusik unterschiedlichster Couleur – natürlich auch das, was wir unter „Orient“ verstehen, aber schwer näher definieren können. Aber ein klares Spezifikum türkischer Musik gibt es eigentlich nicht.

Welchen Sinn hat es dann, ein Land zum Fokus eines Musikfestivals zu machen?

Um seine Vielfalt zu zeigen – insbesondere jene Facetten, die jenseits der Klischees von Bauchtanz und so weiter liegen.

Ist türkische Musik eher europäisch oder arabisch inspiriert?

Sie hat von allem etwas, das ist ja gerade das Spannende. Für mich war der 1991 verstorbene Komponist Ahmed Adnan Saygun zum Beispiel eine große Entdeckung. Er hat seinerzeit gemeinsam mit Bartók die Türkei bereist und Volksmusik aufgenommen und steht der westlichen Kunstmusik sehr nahe. Seine Kammermusiken und Sinfonien stehen für die europäische Facette türkischer Musik.

Sie präsentieren auch „französische Türkerien“ des 18. Jahrhunderts. Wie authentisch sind diese „orientalischen“ Stücke von Marais und Forqueray?

Gar nicht. Die Komponisten sind ja nie dort hingereist. Sie alle – auch Mozart übrigens – haben bestimmte Verzierungen eingearbeitet, die man damals für türkisch hielt. Wir veranstalten auch einen „orientalischen Opernabend“ mit Rossinis Oper „Der Türke in Italien“ – auch daran ist nichts türkisch. Die „türkische Anmutung“ wurde als Phantasie quasi dort hineinkomponiert.

Erklären Sie das den Zuhörern?

Ja, natürlich, im Programmbuch. Zu manchen Konzerten geben wir auch Einführungen.

Sie zeigen Derwisch-Tänze. Ist das nicht zu viel des Klischees?

Nein. Derwisch-Tänze mögen manchmal zum Klischee verkommen, aber sie gehören zur Kultur dieses Landes.

Gibt es eine didaktische Idee hinter dem Festival?

Unsere didaktische Idee ist es, möglichst nicht didaktisch zu sein. Wir versuchen, ohne Scheuklappen eine große Bandbreite zu präsentieren und den Menschen die Chance zu geben, selbst zu urteilen.

Hat sich Ihr eigenes Urteil über türkische Musik verändert?

Ja, hundertprozentig. Schon bei unserer ersten Reise in die Türkei war ich sehr spontan davon angetan, dass es mehr gibt als zunächst vermutet. Ich war nicht darauf gefasst, dass der Klassik-Sektor so viel zu bieten haben würde. Ich war regelrecht beglückt, so hochkarätige Komponisten wie eben Saygun zu entdecken. Und ich war erfreut zu sehen, dass es weit mehr gute Pianisten gibt als nur Fazil Say. Die Önder-Schwestern zum Beispiel und Gülzin Onay, eine ganz hervorragende Virtuosin.

Sie kannten diese Interpreten und Komponisten nicht.

Nein, wie wohl die meisten hier.

Warum eigentlich?

Das frage ich mich auch. Aber die Tatsache, dass wir sie eingeladen haben, könnte für andere Veranstalter ein Anreiz sein, ein bisschen mutiger zu sein. Das ist natürlich immer ein Vabanque-Spiel: Ein Konzert von Gülzin Onay ist nicht nach drei Tagen ausverkauft. Da gibt es eine gewisse Zurückhaltung, weil die Menschen mit der Türkei etwas anderes verbinden als herausragende Klassik-Virtuosen. Wenn wir an dieser Haltung etwas ändern könnten, wäre ich sehr froh.

Trotzdem haben Sie viel Weltmusik ins Programm genommen.

Unser Festival muss eine große Fläche bespielen und ein vielgestaltiges Publikum zufriedenstellen. Ich bin sehr froh, dass wir immerhin eine beachtliche Zahl türkischer Klassik-Komponisten und Interpreten präsentieren können. INTERVIEW: PS

Schleswig-Holstein Musik Festival: 9. 7. bis 28. 8., www.shmf.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen