: Abschied von einem Lebensretter
VERSTEHENSARBEIT Hunderte Facetten einer Lebensgeschichte: In ihrem neuen Roman spürt Viola Roggenkamp dem männlichen Helden ihrer Familie nach
VON ANJA MAIER
Als Paul gestorben ist, bleiben sie zurück: seine Frau Alma und seine Tochter. Zwei Frauen, die diesen Mann unendlich geliebt haben, jede auf ihre Weise. Die Witwe hadert und grummelt, sie hält Pauls Tod für ein grausames Versehen. Ihre nun halb verwaiste Tochter wird das, was erwachsene Kinder zu sein haben, wenn ein Elternteil stirbt: eine Stütze für ihre trauernde Mutter. Sie hält sich wacker in dieser Position, zweifellos. Und doch: „Unbegreiflich war ihr, dass es ihn nicht mehr gab. Sobald sie es zu denken versuchte, weigerte sich ihr Gefühl, mit ihrem Verstand zusammenzuarbeiten. Ihr war, als hätte durch seinen Tod sich etwas von ihrem Leben aus der Welt entfernt.“
„Tochter und Vater“ ist ein Buch über das Trauern und über den Umgang mit jener bruchstückhaften Lebensgeschichte, die der Verstorbene den Seinen hinterlässt. Tatsächlich, wenn ein naher Mensch stirbt, entfernt sich etwas aus der Welt, dessen Verlust man erst einmal akzeptieren und verinnerlichen muss. Man kämpft: um Haltung, aber auch um das Erinnern. In Viola Roggenkamps Roman sind es Mutter und Tochter, die miteinander um die Antwort auf die Frage ringen, wer er nun war, ihr Paul. Ein Held, da sind sie sich einig. Aber was für einer? Als die Tochter beschließt, auf seiner Beerdigung eine Rede zu halten, begibt sie sich auf seine Spur.
„Mein Vater war ein Deserteur“, sagt die Tochter, „er hat zwei Jüdinnen das Leben gerettet, meiner Mutter und meiner Großmutter.“ Diese Großtat, die Rettung der beiden Frauen in einer Zeit, als es alles andere als selbstverständlich war, Juden zu helfen, macht den jungen Paul zu jenem strahlenden Kerl, als der er erinnert wird. Doch als der Krieg vorbei ist und die Familie im großbürgerlichen Hamburg der Nachkriegsjahre Fuß fasst, erweist sich dieser Mann als schwächlich. Er ist ein magenkranker, ewig malader Vertreter für Brillengestelle. Mit Frau, Kind und Schwiegermutter leidet er, der Nichtjude, am gemeinsam erlebten Trauma des Holocaust. Der Held ist schwach und dazu verdammt, seine Frau, die Jüdin Alma, auf ewig zu stützen. Er muss der Retter bleiben und bräuchte doch selbst Hilfe – so anstrengend ist und bleibt dieses Leben für ihn bis zum Schluss.
In „Tochter und Vater“ reist die Tochter nun nach Krakau, wo der kriegsuntaugliche Vater damals gelebt und gearbeitet hatte. Seine geliebte, heiß begehrte Alma war mit der Mutter in Hamburg zurückgeblieben. Als jedoch im Sommer 1943 die Stadt von der Royal Air Force bombardiert wurde, gab es kein Halten mehr: Paul holte die Frauen raus aus Hamburg, hinein ins von der Wehrmacht besetzte Krakau. Eine Kamikazeaktion, die jeden der drei das Leben hätte kosten können, und die nur gelingen konnte, weil aus dem verliebten Grünschnabel Paul für eine kurze, lebensrettende Phase ein Held geworden war, der die richtigen Entscheidungen getroffen und die waghalsigsten Manöver nicht gescheut hatte.
Nun, Jahrzehnte später, sucht die Tochter in Krakau nach früheren Kollegen ihres Vaters. Es sind Polen, deren Vorgesetzter der Deutsche Paul war. Sie findet sie tatsächlich, trifft auf eine Gruppe Rentner, die damals im Widerstand waren und sich gut an jenen Mann erinnern, der so furchtlos seine schöne Geliebte und deren Mutter gerettet und schließlich auch anderen geholfen hat. Von ihnen erfährt die Tochter aber auch, dass Pauls Hamburger Firma gerade hier, nahe bei Auschwitz, gute Geschäfte gemacht hat, dass der sagenhafte Paul der Verbindungsmann zu den NS-Behörden war. Und dann wiederum musste Paul monatelang in einer Strafkompanie leiden, eine Zeit, die er als „in vielen Dingen vergleichbar der Hölle der Konzentrationslager“ beschreibt …
Hin und her geht es in Roggenkamps Buch. Hin und her wird der tote Paul gewendet, wird sein Leben untersucht und befragt. Ja, es gibt diese Familiengeschichte, die Heldenversion. Aber es gibt ganz offensichtlich auch noch eine andere, weniger strahlende Geschichte. Eine, die nur Paul genau gekannt hat und die nur er hätte erzählen können. Aber Paul ist tot. Und seine Tochter, das verwirrte erwachsene Kind, sucht in diesem Roman, der an Viola Roggenkamps Erfolgsbuch „Familienleben“ anknüpft, nach dieser Wahrheit, die hunderte Facetten hat und sich im Licht der Ereignisse und Jahrzehnte, der Liebe und der gut gemeinten Lügen bricht. Sie wird keine Antwort mehr bekommen. Sie wird Paul beerdigen und keine Rede gehalten haben.
■ Viola Roggenkamp: „Tochter und Vater“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 268 Seiten, 18,95 Euro
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