: Jungs, die auf Titten starren
FREIHEIT Das kalifornische Silicon Valley ist die Heimat von Konzernen wie Google, Apple und Facebook. Ein Hort des Bösen? Nein, ein Ort an dem die Unschuldigen die Welt verändern
■ Gründung: 1967
■ Offizieller Auftrag: Computer herstellen
■ Weg zur Weltherrschaft: Verführung
■ Gewinn: 37 Milliarden Dollar
■ Anführer: Steve Jobs (offiziell tot, aktueller Avatar heißt Tim Cook)
■ Neueste Eroberungen: Beats Electronics (Audiotechnikhersteller), Passif Semiconductor (Halbleiterunternehmen), AlgoTrim (Softwarespezialist)
■ Irrer Plan: Aktuell keiner. Alle Mitarbeiter sind mit der verzweifelten Suche nach der Genialität von Steve Jobs beschäftigt.
■ Weltherrschaftsfaktor: Oh, ist das schön!
AUS PALO ALTO PETER UNFRIED
Jeder dahergelaufene Silicon-Valley-Millionär fährt ja angeblich Tesla, aber an diesem Nachmittag parkt nur eine einzige 100.000-Dollar-Elektrolimousine in der Nähe des Cafés Venetia, das ist ein Hotspot in der University Avenue von Palo Alto, Kalifornien.
Daneben stehen fünf Hybridfahrzeuge vom Typ Toyota Prius, dem Ökostatussymbol des denkenden Mittelschichtrentners. Entweder der Tesla-Hype ist schwer übertrieben oder es liegt daran, dass die Technologiejungs einfach rund um die Uhr vor ihren Computern arbeiten und keine Zeit zum Kaffeetrinken haben.
Ein paar Schritte rein in einer Seitenstraße liegt das Ristorante Il Fornaio, von dem Tom Wolfe Anfang des Jahrtausends erzählt hat, dass sich dort die Tech-Gründer „zum Frühstück Kriegsabenteuer erzählen“, Stories ihrer Schlachten gegen die alten Wirtschaftsimperien. Heute ist es voll mit Leuten, die Pollo Toscano bestellen, weil sie denken, dass Facebook-Chef Mark Zuckerberg auch da sein könnte. Trotzdem werden dort immer noch Deals gemacht. Ohne Aktenkoffer. Wenn einer Schlips trägt, ist er der Kellner.
Zuckerberg, Google-Chef Larry Page und Yahoo-Chefin Marissa Mayer leben in Palo Alto. Apple-Guru Steve Jobs starb hier. Google residierte in der University Avenue, Facebook und PayPal auch.
Hier, im Silicon Valley, wird an einer Zukunft oder Gegenwart gearbeitet, die den einen Teil der Welt in Begeisterung versetzt und den anderen in Angst. Die einen erhoffen sich von der Digitalisierung Innovation, Aufbruch, Reichtum, eine bessere Welt. Die anderen fürchten die Zerstörung der Freiheit, der alten Wirtschaft und ihrer Arbeits- und Sozialstrukturen, der Kultur und damit auch der Gesellschaften, wie wir sie noch zu kennen glauben.
Die Utopie wird derzeit vor allem innerhalb der Medien beschworen: Jeder Journalist und Verlagsmanager, der im Silicon Valley war, um von dort „die Zukunft“ in sein ratloses Medienhaus zu implantieren und nach der Rückkehr drei Schreibtische verschiebt, gilt – vorübergehend – als Galileo. Die Dystopie hat Dave Eggers mit seinem Roman „The Circle“ geliefert. Der Schriftsteller aus San Francisco beschreibt eine Diktatur der Algorithmen. Nach Suchmaschine, Sozialnetz und Hardware-Hersteller wird das Monopolunternehmen Circle zum Verkäufer einer Totalüberwachung, die es als Sicherheit und Freiheit verkauft. Die Moral: Alles wird furchtbar enden, wenn wir nicht aufwachen und die bösen Internet-Milliardäre und ihre Unternehmen zähmen.
Palo Alto fühlt sich aber zunächst nicht wie das Zentrum der Welt an – sei es nun gut oder böse –, sondern wie ein Kaff. Wenn man nicht aufpasst, ist man auch schon wieder raus und in Menlo Park oder Mountain View oder Cupertino. Alles Käffer auf der Halbinsel südlich von San Francisco, die fast gleich aussehen und sich nach nichts anfühlen. Außer man kommt nach Stanford rein. Aber dann ist man auch im Zentrum des Zentrums der Welt. Da, wo das Silicon Valley gezeugt wurde. Die Privatuniversität Stanford, das muss man wissen, ist eine eigene Welt mit eigener Postleitzahl (Stanford, Ca. 94305) und einem eigenen Bus-System, kostenlos selbstverständlich.
In seltenen Fällen fährt auch Hans Ulrich Gumbrecht mit seinem Jeep von Stanford die paar Meter rüber ins Il Fornaio. Gumbrecht, 66, ist einer der führenden Literaturwissenschaftler der Welt. Wenn er auf die Digital-Millionäre trifft und sagt, dass er für Stanford arbeite, dann sind sie sofort wach und fragen, was er denn genau mache.
„Comparative Literature“, sagt er.
Und sie: „How interesting.“
Gespräch beendet.
Der Literaturprofessor kokettiert damit, dass er sich mit Computern nicht richtig auskenne. Seine Mails schreibt er gern komplett in die Betreff-Zeile. Aber er ist von den wichtigen deutschen Intellektuellen der einzige, der die digitalen Erschütterungen aus deren Zentrum beobachtet. Genauer gesagt: aus seinem Erdgeschossbüro im Herzen des Campus.
Da sitzt er zu früher Stunde, trägt Tom-Selleck-Schnauzer, die Haare grau und Muskelshirt ohne Bodybuilderkörper. Gumbrecht fühlt sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Nein, Dave Eggers habe die Utopie des Silicon Valley nicht entlarven können, „denn das Silicon Valley hat ja keine Utopie“, sagt er. Und folglich auch keine Antiutopie. Das Silicon Valley habe kein Bewusstsein für die Frage, wie die Welt sich entwickeln soll. Weder im Guten noch im Bösen. Gumbrecht glaubt nicht, dass Geldgier die Jungs treibt oder Machtgier oder der Drang zur totalitären Unterwerfung der Menschheit, sondern Erfolgsrausch. Was ist das Problem, wie lösen wir es? Falls das irgendwann zu neuen Problemen führt, werden wir uns zu gegebener Zeit damit beschäftigen.
Gumbrecht ist ein Babyboomer aus Nachkriegsdeutschland, geboren im zerbombten Würzburg.
Stanford und das Silicon Valley, das war eine Lebensentscheidung. Er wollte einen Ort, der offen war, um Teil seiner Gestaltung werden zu können. Er ist hier, um zu inspirieren und inspiriert zu werden, und Kalifornien hat ihn nicht enttäuscht, sondern das Freiheitsversprechen eingelöst.
Wenn George Packer aus New York ins Silicon Valley zurückkommt, fühlt er sich entfremdet. „Ich vermisse meine Kindheit.“ Er seufzt beim Gedanken daran. Er ließ das Valley 1978 hinter sich. Im Jahr davor war der Apple-Computer erfunden worden. Einige seiner Klassenkameraden gingen zu Apple, Sun und Microsoft. Die, mit denen die hübschen Mädchen nicht tanzen wollten. Die, die man früher Nerds nannte. Sie wurden Millionäre. Und regieren heute die Welt, die Packer beschreibt.
Die Rache der Nerds?
„Genau.“ Das Silicon Valley ist für ihn heute einer der ungerechtesten Orte der Welt.
Packer, 54 dürfte zu den fünf wichtigsten Politikjournalisten der USA gehören und hat einen der Bestseller des Jahres geschrieben. „Die Abwicklung“ ist die Geschichte des Niedergangs der US-amerikanischen Mittelschicht. Literarischer politischer Journalismus nennt sich das Genre, das er auch als Redakteur von The New Yorker betreibt, dem Blatt der Ostküstenintelligenz. Die Redaktion des Wochenmagazins residiert am Times Square in Manhattan, aber Packer hat ein Home Office in Brooklyn, in dem er gerade sitzt und telefoniert.
Ein Dinner für zwei kostet heute 150 Dollar
Er kommt aus einer Schriftstellerdynastie, seine Eltern lehrten in Stanford. Packer ging in Palo Alto zur High School, als das Silicon Valley noch unter Santa Clara County lief. Er erinnert das Tal als funktionierende Mittelschicht-Suburbia. Alle in ähnlichen Häusern. Alle in den gleichen öffentlichen Schulen. Das Tal sei gemütlich gewesen, langweilig. Aber egalitär. Es gab keine Restaurants wie das Il Fornaio. Heute zahlt man überall 150 Dollar für ein Dinner für zwei.
Die Abwicklung, die er in seinem Buch beschreibt, ist für ihn in Palo Alto am sichtbarsten. „Früher war das Silicon Valley ein demokratischerer Ort als die Ostküste“, sagt er, „heute ist es der Ort, an dem man das neue Klassensystem am klarsten sehen kann. Wenn man will.“ Heute gibt es fünfzig Milliardäre und Zehntausende von Millionären, normale kalifornische Pappschachtelhäuser kosten in Palo Alto im Schnitt 2 Millionen Dollar, aber unterm Wahrnehmungsradar sind die vielen, die es mit drei Dienstleistungsjobs kaum schaffen.
„Ja gut, der New Yorker“, sagt Gumbrecht. Klassisches Abwertungsbedürfnis der Ostküstenelite gegenüber dem aus ihrer Sicht geistlosen Kalifornien. Die derzeit noch wichtigen Journalisten haben fast alle in Neuengland studiert, dort, wo die ersten britischen Siedler an Land gingen. Aber gleichzeitig schlottern ihnen nun auch die Knie, wenn sie sehen, was im Westen abgeht.
„Ja, Kalifornien ist vorn, der Osten hat jetzt Angst vor dem Silicon Valley“, sagt Packer. Das frühere Überlegenheitsgefühl der von europäischer Geistesgeschichte geprägten Ostküste sei dabei, sich in einen Minderwertigkeitskomplex zu verwandeln.
Während das Silicon Valley einen großen Einfluss auf Lifestyle und Technik hatte, hatte es ganz und gar nicht den positiven für den Arbeitsmarkt, wie seine Unterstützer behaupten. Die Tech-Industrie war nie eine Job-, sondern eine Rationalisierungsmaschine.
Eine „ökonomische Enttäuschung“ nennt es Packer. In den 30 Jahren, die er mit „Die Abwicklung“ beschreibt, sind Teile der Mittelklasse zu Tellerwäschern abgestiegen, weil ihre alten Jobs nicht mehr gebraucht werden. Als prägnantestes Beispiel wird immer der Fotokonzern Kodak genannt. Die Digitalisierung tötete das Kerngeschäft, von einst 150.000 Mitarbeitern sind keine 9.000 übrig.
Für die Übernahme der kostenlosen Foto-und Video-Sharing-App Instagram zahlte Facebook vor zwei Jahren eine Milliarde Dollar. Das Unternehmen bestand zu der Zeit aus zwölf Mitarbeitern.
In Deutschland sind womöglich 50 Prozent der Arbeitsplätze in den nächsten Jahrzehnten durch Computer, Roboter, Algorithmen bedroht. Es geht nicht nur um knurrige Taxifahrer und süße, kleine Buchhandlungen. Es geht um Industrie- und Geistesarbeiter. Musikindustrie, Verlagsindustrie. Alle Güter und Dienstleistungen, die digital effizient und bequem verbreitet oder „geteilt“ werden können, wie die Verteiler das nennen. Einige wenige werden eine Maschine programmieren, der Rest wird von Maschinen programmiert. Bestenfalls.
Was Packer besonders stört: Die Jungs wollen einfach nicht sehen, wie ihre Tech-Unternehmen und ihr Erfolg die Zerstörung der Industriegesellschaft und ihrer Arbeitsplätze dynamisieren. „Die leben in der wunderbaren Isolation ihres Erfolges.“ Er hat sich ausgiebig mit den Unternehmern des Valley beschäftigt und ihnen in die Köpfe geschaut, wie man in seinem brillanten Reportage-Essay „Change the World“ nachlesen kann.
Was denkt er: Sind die Silicon-Valley-Milliardäre böse Männer, die zur Anhäufung von Geld und Macht alles kaputtmachen, was sich ihnen in den Weg stellt?
Nein, ruft er sofort, „ich glaube, sie sind ein klein wenig unschuldig.“
Wenn man überhaupt von einem Typus sprechen könne, dann so: „Jung, ein bisschen naiv, sehen nicht das ganze Bild und können es gar nicht sehen.“
Sie haben die bescheuerte Ice Bucket Challenge groß gemacht und denken auch noch, das bringt die Welt voran. (Man sollte sie allerdings nicht dafür schelten, dass die halbe Welt mitmacht.) Sie reden von Teilen und Anteilnehmen, weil sie wieder eine App entwickelt haben. Besonderes Aufsehen erregte bei einer Tech-Konferenz eine sogenannte Titstare-App, bei der man sich selbst fotografieren kann, wie man auf, nun ja, Titten starrt. Ironisch gemeint?
Es wurde sofort als Beleg vereinnahmt, dass es der neuen Industrie am Feminismusfaktor fehlt, die Jungs komplette Vollpfosten sind und da grundsätzlich etwas schiefläuft.
„Das sind Jungs, die noch nie große Probleme hatten und denken, ihre Situation sei zu verallgemeinern“, sagt Packer. „Von denen kommen technische Geräte, aber keine Wege, die für eine Gesellschaft gangbar wären.“
■ Gründung: 1998
■ Offizieller Auftrag: Suchmaschine
■ Weg zur Weltherrschaft: Allwissenheit
■ Gewinn: 12 Milliarden Dollar
■ Anführer: Larry Page, Sergey Brin
■ Neueste Eroberungen: Nest Labs (Hersteller von Thermostaten und Rauchmeldern), California life Company (Biotechnologie und Gesundheit), Deep Mind (Künstliche Intelligenz und lernende Algorithmen)
■ Irrer Plan: Singularität. Technischer Euphemismus, der verschleiert, dass die Menschheit das Menschliche überwinden soll, damit sie künftig nur noch als ein Heer von Geistern in Maschinen existiert.
■ Weltherrschaftsfaktor: Mal sehen, was Google dazu sagt … Recherche: Andreas Köhnemann, Stefanie Schmidt
In der Analyse liegt er nicht weit weg von einem vehementen Kritiker wie Evgeny Morozov. Was auffällt, ist die Einfühlungskraft und Toleranz gegenüber den Kritisierten. Es muss damit zu tun haben, dass George Packer die Spannbreite des kalifornischen Libertarismus erlebt hat und auch die positiven Möglichkeiten sieht.
Die unbeantwortete Frage ist ja, warum das Silicon Valley nicht an der Ostküste ist oder im angeblich so kreativen und pulsierenden Berlin, sondern in diesen vermeintlich geistlosen kalifornischen Käffern.
Man erreicht das Silicon Valley von San Francisco aus, wenn man eine halbe Stunde auf der El Camino Real oder der 101 Richtung Süden fährt. Aber dann erreicht man es auch wieder nicht. Es ist weitgehend unsichtbar. Logisch eigentlich für das Weltreich des Digitalen. Dennoch fühlt es sich seltsam an. Facebook residiert in 1 Hacker Way – ein alberner Versuch, sich mit politischem Rebellentum aufzuladen. Das Firmengelände ist direkt an der Bay, nur ein paar Meilen die University Avenue von Palo Alto raus und doch schon an einem Arsch der Welt. Sieht aus wie eine Festung in der Steppe, die von einem mittelgroßen Parkplatz geschützt wird. Das Weltverbesserungsunternehmen mit der Mission „Make the world more open and connected“ lässt einen ohne Mitarbeiter-Ausweis nicht mal parken.
Ein paar Meilen weiter südlich, die Stadt nennt sich jetzt Mountain View, ist der Googleplex, das Firmengelände des Unternehmens Google. Da kann man die berühmten gelb-grün-roten Fahrräder berühren, die zwischen den Palmen und den Gebäuden rumstehen. Aber ohne Ausweis und offizielle Begleitung kommt man nicht mal in den Firmenshop rein. Ein Mensch ohne Ausweis ist hier kein Mensch. Er ist, so heißt es bei Packer, ein „Sicherheitsrisiko“.
Die Innenstadt von Mountain View besteht hauptsächlich aus der Castro Street. Sie ist nicht verfallen wie andere US-Innenstädte, sie ist einfach so, wie das reale Silicon Valley dem Fremden erscheint, der es mit europäischen In-Quartieren vergleicht: ohne Flair, ohne Kultur, ohne Utopie. Leer. Komplett leer.
Packer sagt: „Sie spüren das Fehlen von Kultur oder auch Identität, aber für einen Amerikaner fühlt sich das womöglich mehr wie eine offene Tür zum Neuen an.“
Die Regierung stört. Also muss sie weg
Kalifornien komme einem im Vergleich zur Alten Welt geschichtslos vor, sagt Packer. Das werde dort aber nicht als Leere verstanden, sondern als Offenheit. Ein Ort, an dem einem keiner sagt, dass alles nicht geht oder nicht so. Das ist der kalifornische Libertarismus, die Idee, dass die Regierung nur im Weg sein kann und deshalb weggestoßen werden muss.
Der amtierende Präsident der Stanford University ist kein Geisteswissenschaftler. Sondern ein Computerwissenschaftler, der sein Jahresgehalt angeblich spendet. John L. Hennessy. Seine Arbeit steckt in den Spielkonsolen von Nintendo. Mutmaßlicher Milliardär. Die Google-Gründer lernten bei ihm. Heute berät er sie in Googles Board of Directors. Stanford soll auf dem Markt Erfolg haben. Die Werteverschiebung, die Stanford selbst initiiert hat, führt dazu, dass es mittlerweile „Amerikas ‚it‘-Schule“ geworden ist, wie selbst die New York Times zugeben musste.
Harvard ist abgehängt, Yale, Princeton und der Rest des Ostens sind es längst. Stanford ist jetzt bei den Studierenden die begehrteste Universität, und sie bekommt seit Langem das meiste Geld gespendet. Der Hauptgrund ist die Nähe zum Silicon Valley und die Hoffnung, die damit verbunden ist.
Viele der Anfangzwanziger wollen die Welt verbessern, sagt Gumbrecht. Aber kein normaler Stanfordianer würde auf die Idee kommen, in die Politik zu gehen, wie es Gumbrechts Freundin Condoleeza Rice noch tat.
Der amerikanische Traum im 21. Jahrhundert ist ein Stanford-Absolvent, der ins Silicon Valley geht. Oder ist das der amerikanische Albtraum?
Für Gumbrecht ist das Silicon Valley „die letzte Hoffnung des American Dream“. Im Grunde ist er auch zukunftspessimistisch, nur dann wacht er morgens auf, der Himmel ist von einem unfassbaren Blau. Dann fährt er in sein Büro und denkt: Wenn noch etwas geht, dann hier.
Er weiß längst, dass es umgekehrt ist, wie Europäer oder Ostküstler denken: Das Fehlen der Geistestradition ist die große Stärke des Valley. Diese Stärke besteht in der Freiheit. Von Tradition, die das Weiterdenken verhindert. Von Trägheit. Man hat nicht schon immer etwas so gemacht und kann es aus diesem Grund anders machen.
Da kommt zusammen: das Wetter, der Himmel, der Gegenkultur-Spirit, die Lage am Pazifik. Kalifornien ist nicht das Ende der Welt, wie man von New York, Paris und Berlin aus denken könnte, sondern der Anfang der neuen Welt. Blickrichtung Westen, also Asien. Vor allem, sagt Gumbrecht, ist der Ort, dem die Ressentiments nur so um die Ohren fliegen, frei von … Ressentiments. Und das mache frei.
Die intellektuelle Überlegenheit des Ostens wird überhaupt nicht angezweifelt. Sie wird durch die Realität dementiert. Es gibt in Kalifornien keinen automatischen Neid auf sehr große Erfolge, aber das liegt eben auch an einem geringeren Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit, als Europäer es haben. Ein in europäischer Geistestradition stehender Linksliberaler wie Packer begreift die Neidfreiheit als ideologische Gehirnwäsche.
Man stelle sich ein erfolgreiches und vom linksliberalen Denken her akzeptables Unternehmen vor. Quote, Gewerkschaft, 38-Stunden-Woche. So was gibt es im Silicon Valley nicht. Kann es nicht geben, das ist das Denken. Es setzen sich ja trotz Anwendung eines Turboleistungsprinzips nur die Ausnahmen durch. Der Rest geht unter. Gesetze werden abgelehnt, Quoten sowieso, Frauen gibt es wenige, Schwarze kaum, die radikal leistungsbezogene Personalpolitik läuft auf weiße und asiatische junge Männer raus.
Manche Tech-Unternehmen haben in ihrer Welt eigene Innenstädte geschaffen. Beim Bau der Facebook-Anlage waren auch zwei Disney-Ingenieure beteiligt, sodass es keinen wundern kann, wenn die Hauptstraße sich wie die „Main Street USA“ in Disney World anfühlt.
Es gibt in Facebook World nicht nur Sushi und Fitness, sondern fast alles, bis hin zu Ärzten und Notaufnahme. Der ideale Arbeitnehmer verlässt den Firmencampus eben nur waagerecht. Na ja, das klingt jetzt sehr nach „The Circle“.
Eine halbe Autostunde von Stanford und Palo Alto entfernt, im Mission District von San Francisco, liegt 826 Valencia, die Stiftung des Schriftstellers Dave Eggers, benannt nach der Postadresse. Laut Eingangsschild „der einzige unabhängige Laden für Piratenbedarf“. De facto handelt es sich um eine Non-Profi-Organisation, bei der Kinder und junge Erwachsene literarisches Schreiben lernen können. Gerade ist im Hinterzimmer ein Kurs. Eggers ist nicht da, nur ein als Pirat verkleideter Verkäufer.
Der Mission District ist stark in dem Wandel begriffen, der Gentrifizierung genannt wird. Sehr verkürzt gesagt: Einkommensschwache raus, Tech-Millionäre rein. Ein paar hundert Meter von 826 Valencia entfernt, an der Ecke zur 24th, ist die mittlerweile berühmte Bushaltestelle, an der ein Google-Bus von Protestlern attackiert wurde, was als emblematisches Bild historisiert wurde für den neuen Sozialkampf. Entlang der Route der Privatbusse, die die Tech-Angestellten ins Valley bringen, sind die Mieten besonders gestiegen.
Im Stadtteil South of Market, kurz Soma, an der Ecke 5th und 901 Mission wird seit den 1920ern der San Francisco Chronicle gemacht, traditionell die führende Zeitung Nordkaliforniens und daher in einem sehr repräsentativen Gebäude residierend. Aber der Newsroom wird immer kleiner. Logisch, für weniger Leute braucht man weniger Platz. Der Hearst-Verlag hat auf Immobilienhändler und Vermieter umgesattelt. Yahoo hat inzwischen einige Etagen übernommen. „Wir lieben den Symbolismus, in das Chronicle-Gebäude zu ziehen“, teilte das Unternehmen süffisant mit. Das personifiziere die digitale Revolution und wie Leute heute Medien konsumierten.
Knapp 2.000 Tech-Unternehmen und Start-ups sind inzwischen in der Stadt, die meisten in Soma, in der Regel Software und gern von Ex-Facebook-Mitarbeitern gegründet. Selbst der Tenderloin-Distrikt, Inbegriff des Armen und Schmutzigen, wandelt sich: „Von Huren zu Tech-Huren“ lautet der Kampfslogan.
Super, könnte man jetzt denken, die neue Industrie bringt Arbeit und Steuergeld. Aber mit Unternehmensteuern haben es die Tech-Monopolisten überhaupt nicht. Und Jobs? Ja, aber das ist weder Arbeiterarbeit noch traditionelle Mittelschichtsarbeit, sondern nur sehr einseitige Arbeit für bestimmte Bildungs- und Kompetenzmilieus. Das treibt die Verdrängung der bisherigen Mittelschichten voran.
Und bedroht das Selbstbildnis als Weltmetropole des Fortschritts: Summer of Love 1967, Golden Gate Park. Neue Formen des Zusammenlebens und der Liebe, neue Musik, neue Drogen, Liberalisierung der Homosexualität, neue gesellschaftliche Werte. Wie sangen Crosby, Stills, Nash & Young? „We can cha-hange the world, re-arra-hange the world“.
■ Gründung: 2004
■ Offizieller Auftrag: Menschen verbinden
■ Weg zur Weltherrschaft: Manipulation
■ Gewinn: 523 Millionen Dollar
■ Anführer: Mark Zuckerberg
■ Neueste Eroberungen: Moves (Fitness-App), Oculus VR Inc. (Entwickler der Virtual-Reality-Brille „Oculus Rift“), WhatsApp (Nachrichtenservice und soziales Netzwerk)
■ Irrer Plan: Facebook hat mit den Gefühlen seiner Nutzer herumgespielt und durch das Unterdrücken negativer Nachrichten in seinem Newsfeed deren Laune verbessert. Künftig lassen sich so auch Präsidenten wählen.
■ Weltherrschaftsfaktor: Gefällt mir!
Und nun soll man zur Schlafstadt des Silicon Valley degradiert werden?
Aber viele Techies sind ja auch für Einwanderung, Homo-Ehe, Bioernährung und Marihuana. Die progressiven Ideale einen die, die aus ihren Wohnungen fliegen, und die, die einziehen, sagt Packer.
Die große Frage ist, was der Begriff progressiv überhaupt noch wert ist und ob er nicht von allen 1968 folgenden Generationen zu einseitig definiert wurde: Der Schwerpunkt lag auf Kultur und Lebensstilen, bei einer Minderheit auf Politik. Aber nicht auf Wirtschaft.
Linke werfen Steine. Sie können nichts anderes
Das Silicon Valley hält sich für progressiv und will, dass sich alles ändert. Aber es soll niemanden geben, der die Veränderung zum gesellschaftlichen Nutzen steuert und reguliert.
San Francisco hält sich für progressiv und will deshalb, dass alles so schön progressiv bleibt, wie es ist. Dass die Stadtpolitik keine – auch für Bewahrung nötige – Kraft hatte und hat, aktiv zu gestalten, wurde lange ignoriert. Und irgendwann wirft eine linksliberale Protestbewegung Steine, weil man letztlich auch nichts anderes gelernt hat.
Die Frage lautet: Ist das auch unsere Zukunft? Politiker, die nix hinkriegen oder hinkriegen können, eine Industrie, die ihre Gewinne mit Effizienz macht, also anständige Arbeitsplätze vernichtet oder erst gar keine mehr schafft? Leute, die sich selbst verwirklichen, indem sie auf Leute starren, die auf Titten starren? Ein Protest, der wie in der guten alten Zeit das Böse stoppen will oder das Geld umverteilen, während man doch etwas Gutes in Gang bringen könnte, etwa Unternehmen, die es besser machen. Und immer mehr, die selbst sehen können, wo sie bleiben, weil die alten Bänder der Gesellschaft zerschnitten sind und die Politik immer weniger dämpfen kann. Was ist die Lösung? Das ist die Frage, bei der George Packer passt. „I am not a solution guy“, sagt er. Die klassische Journalistenantwort. Nachfragen bringen nichts.
Vielleicht so: Man muss den Leuten die kalifornische Luft geben, in der Neues entstehen kann. Und es braucht eine neue gesellschaftspolitische Kultur, die die Wirtschaft ins Zentrum rückt. Die Valley-Jungs denken ja, jede Überwindung einer alten Ökonomie sei gut, und sehen dabei nicht, dass die Welt begrenzt ist: Wenn die einen noch mehr kriegen, dann kriegen die anderen noch weniger.
Das heißt nicht, dass man in Detroit wieder schlechte Autos bauen sollte.
Es heißt, dass man die Probleme der komplizierten und widersprüchlichen Gegenwart weder mit Steinen noch mit Quoten noch mit Kulturpessimismus gelöst kriegt. Und schon gar nicht mit Ressentiments.
Die Welt ist eine Welt der Probleme, der politischen (Ohnmacht), technologischen (Überwachung), sozialen (Ungerechtigkeit), ökonomischen (Finanzkrise), ökologischen (Klimawandel) und ideologischen Sackgassen, in die die Massendemokratie sich und die Welt manövriert hat.
Aber schuld sind nicht die Silicon-Valley-Jungs. Und lösen werden sie unsere Probleme auch nicht.
Die Jungs haben etwas Neues in die Welt gebracht. Weil sie es konnten, weil sie es wollten, weil sie keiner daran gehindert hat. Das ist jetzt auch ein Problem, aber darin steckt die einzige Lösung: Wir müssen uns auch etwas Neues einfallen lassen.
■ Peter Unfried, 51, taz-Chefreporter, fuhr mehr als zehn Jahre lang notorisch auf dem Freeway 280 am Silicon Valley vorbei. Bis es nicht mehr ging
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen